Tenaturik

Genre: Fantasy / Sci-Fi

 

Die  Welt hat sich im Laufe der Jahrhundert stark verändert. Auf dem Kontinent Daraium herrscht auf der einen Seite die Menschheit, die in ihren weißen Großstädten immer gefühlskälter werden und mehr denn je den Humanoiden ähneln, die sie selbst erschaffen haben. Auf der anderen Seite wiederum sind die Großstädte vom gewaltigen Dschungel eingeschlossen. Wer sich in die Natur hinaus wagt, riskiert sein Leben. Ist es in einer solch gefühlskalten und brutalen Welt noch möglich ein Gefühl der Liebe aufkommen zu lassen? 

 

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1. Kapitel - Tenaturik

 

17. Tag des 5. Monats im Jahre 5682

Ort: Die Unterstadt von Synoria - »Die weiße Stadt«

 

Tenaturik. Sie haben sich so genannt, weil sie sich nicht erdreisten wollten zu behaupten, dass man gänzlich auf Technik verzichten konnte oder wollte. Immerhin konnte man sagen, dass einige Entwicklungen und Erfindungen durchaus ihre positiven Seiten besaßen und somit sehr praktisch waren. Dennoch gibt es einige technische Dinge, die zum Nachdenken anregen.

Ist es wirklich notwendig Gefühle zu unterdrücken? Sich der Kälte hinzugeben, nur weil man dadurch angeblich weniger Probleme besaß? Keine Aufregung, keine Wut und kein Zorn. Ein klarer Verstand, der ohne den störenden Einfluss von Gefühlen zu schnellen Lösungen für Probleme kam. Es wurde nichts mehr hochgeschaukelt, denn die Ursache wurde schnell erkannt und effizient beseitigt. Das war einer der Grundgedanken, weshalb die Menschheit immer kühler und technischer wurde. Aber es war auch der Grund, weshalb sich Nadeya nicht in dieser Welt wohlfühlte. Sie war emotional und sensibel. Wegen einer Sache Tränen zu vergießen, schien vollkommen falsch zu sein. Zumindest war das die allgemeine Meinung. Tränen mussten nicht mehr vergossen werden, denn wenn man Trauer und Verzweiflung nicht mehr an sich heran ließ, dann verschwendete man auch keine unnötige Energie. Energie, die man für andere Dinge einsetzen konnte, vorzugsweise um Pläne und Ziele zu verwirklichen, die wiederum für größeren Profit garantierten. Profit! Als gäbe es nichts anderes mehr in dieser Welt!

Frustriert hielt Nadeya den Touchscreen in ihren Händen, auf dem die neusten Nachrichten flimmerten. Papier gab es kaum noch, alles wurde über die Jahrhunderte modernisiert, besser gemacht. Wozu also Papier erzeugen, um aufwändig Zeitungen zu drucken, die dann nur dafür sorgen würden, dass die Stadt verschmutzt wurde? Indem man alles über Bildschirme laufen ließ, kam man viel schneller zu Informationen und nicht zuletzt war es eine sehr viel bessere Investition. Einmal die Bildschirme angeschafft, konnten sie Jahre lang genutzt werden. Eine Zeitung hingegen besaß nur einen geringen Nutzen, zerriss, wurde weggeworfen, nahm wichtigen Platz weg. Dabei mochte Nadeya Papier. Es glich einem Wunder, dass ihr Vater noch ein paar alte Bücher besaß. Der Geruch dessen war immer etwas besonderes für sie gewesen und sie hütete diese Bücher wie einen riesigen Schatz. Doch leider musste auch sie zugeben, dass diese Materialien nicht lebenslänglich erhalten blieben. Schon jetzt sah man die Vergilbung der Seiten und die Schrift schien mehr und mehr verblassen zu wollen. Wie viele Jahre gab es diese Bücher schon? Leider konnte man es nicht mehr im Impressum nachlesen. Aber die Bücher waren auch gut verschlossen in einer Truhe, wo keiner sie entdecken würde.

Wenn Nadeya jetzt einatmete, dann bekam sie keinen nostalgischen Geruch von dem Bildschirm in ihrer Hand. Es war einfach nur ein Gerät, das jederzeit ersetzt werden konnte und das war wirklich sehr, sehr schade. Aber dafür war die Bar, in der sie saß, besser. Weil alt. Nicht so modern und voller Technik vollgestopft. Man könnte meinen, man befinde sich im Jahre 2000, dabei lebten sie schon im 5. Jahrtausend! Aber wie es wohl damals noch gewesen war, als die Technik nicht so einen Überhang besessen hatte? Sie wusste es nicht, glaubte jedoch trotzdem, dass es besser gewesen sein musste, weil mehr Gefühle vorhanden gewesen waren. Wie dem auch sei. Sie hob gerade ihren Kopf, der von langen wilden roten Locken umrandet worden war. Allein ihr Aussehen hatte etwas Aufmüpfiges an sich, was aber nicht ihre Schuld war. Heutzutage wurde stets darauf geachtet schlicht und angemessen gekleidet zu sein und dementsprechend auch Frisuren zu haben. Aber ihre Mutter hatte ihr diese rote Mähne vererbt, die sich kaum bändigen ließ und so fiel sie allein wegen dieser Locken in der Masse auf. Ein Grund mehr sich lieber in der Unterstadt aufzuhalten. Ihren Kopf hob sie nur deshalb an, weil sie die Tür hörte, die eben geöffnet wurde. Keine automatische Mechanik, man musste tatsächlich die Hände einsetzen, um sie zu öffnen. Für jemanden, der das gar nicht mehr kannte, war das fast unvorstellbar. Nadeya lachte immer wieder, wenn sie Leute vor der Tür stehen sah, die die Stirn runzelten und glaubten, dass sie einfach verschlossen war, weil sie sich nicht von allein öffnete. Aber jetzt öffnete sie sich, weil offenbar ein neuer Gast eintrat. Ihre braunen Augen besaßen fast eine goldne Farbe. Besonders dann, wenn Sonne auf sie strahlte. Doch in dem eher diffusen Licht hier in der Bar ihres Vaters wirkten ihre Augen dunkler als üblich. Fast schwarz.

Ihre Kleidung bestand aus einem Jeansstoff, der über die Jahrhunderte auch arg verbessert wurde. Er passte sich perfekt der Körperkontur an, war elastisch und robust zugleich. Es musste schon eine Menge passieren ehe der Stoff wirklich zerriss. Und dennoch befand sich an ihrem rechten Knie ein ausgefranstes Loch, was sie mühevoll dort hinein geschnitten hatte. Denn sie wollte nicht wie andere sein, obwohl allein dieses Loch fast schon wieder zu viel des Guten für das Ordnungsamt war. Deswegen trug sie die Hose auch nur, wenn sie hier in der Bar saß.

Weil momentan auch nicht so viele Gäste da waren, saß sie an einem kleinen runden Tisch auf einem hohen Hocker. Ansonsten würde sie nämlich herum wuseln und bedienen, während ihr Vater hinter der Theke stand und die besten Drinks und Cocktails zubereitete, die man je probiert hatte. Er war großartig darin und wenn man erst mal seine Getränke probiert hatte, glaubte man das pure Leben schmecken zu können. Nun, mal sehen ob es notwendig war jetzt wieder bedienen zu müssen oder ob der Gast sich direkt an die Bartheke setzten würde. Er würde auf jeden Fall von ihren Augen verfolgt werden.

Hier in die Unterstadt von Synoria verirrte sich kaum einer hin, der sonst üblicherweise weiter oben lebte. Die Stadt war wie viele andere weiße Städte auch, in Ebenen und Etagen eingeteilt. Treppen und diverse Aufzüge verbanden die verschiedenen Etappen der Stadt. Es gab etliche Wege, über die Hälfte davon waren automatisiert worden damit der Mensch keine große Mühe hatte von einer Stelle auf die andere zu kommen. Es war erstaunlich wie weit der Fortschritt voran geschritten war. Und erstaunlich, dass man durch all den Konform nicht in die breite wuchs. Mal ehrlich, wer sich so wenig bewegte, müsste doch ganz von selbst aufgehen wie ein Ballon. Aber auch das schien fast unmöglich. Die Nahrungsprodukte, die es in den handelsüblichen Märkten gab, waren dermaßen angepasst, dass sie genau den Tagesbedarf abdeckten, die ein Mensch brauchte. Für Nadeya manchmal unverständlich. Wenn man zu viel aß, müsste man doch zwangsläufig trotzdem zu viel zunehmen. Oder nicht? Über solche Dinge und andere machte sie sich öfters Gedanken. Sie war ein aufgewecktes Kind. Schon immer gewesen, hatte stets ihr Vater gesagt. Aber diese Seite durfte sie nicht zeigen. Niemals gegenüber den anderen Mitmenschen die Gedanken offenbaren, die sie so oft besaß. Sie würde sofort als Rebell abgestempelt werden. Da war es wieder. Dieses Wort. Rebell. Störenfried. Gesetzloser. Verbrecher. Es gab viele solcher Wörter und noch schlimmere. Die meisten Wörter davon wurden achtlos in einen Topf geworfen. Die Menschen sahen dann nur noch den Mensch, der sich gegen die Gesellschaft stellte und dieser Schaden zufügen wollte. Warum er das tat, wurde meistens gar nicht erst nachgefragt. Ein Rebell musste doch schließlich nicht zwangsläufig ein Verbrecher sein, oder?

Das leise Ping-Geräusch von ihrem Touchscreen holte Nadeya zurück aus den Gedanken. Hatte sie nicht eigentlich den Fremden beobachten wollen, der in die Bar gekommen war? Ihr Augenmerk lag schon gar nicht mehr auf ihn, da sie die neu eingetroffene Nachricht auf ihrem Tablet begutachtete. Eine neue Meldung ist eingetroffen und verbreitete sich über die Nachrichten. Genau diese Nachrichten flimmerten nun über ihren Bildschirm.

 

Seit kurzem ist bekannt, dass die Gruppe, die in den vergangenen Wochen immer wieder Unruhe stiftete, sich Tenaturik nennt. Damit beweist sie, dass es sich hierbei um eine organisierte Verbrecherbande handelt und nicht nur um irregeleitete Menschen, die den Pfad des Verstandes verlassen haben.

Der oberste General des Ordnungs- und Sicherheitsamtes versicherte vor wenigen Minuten, dass man sich intensiv um dieses kleine Problem kümmern und die Sträflinge schnellstmöglich wieder zur Besinnung bringen wird. Die Bürger von Synoria wie auch von ganz Daraium haben nichts zu befürchten. Der Fortschritt der Welt ist nicht gefährdet.

 

Nachdenklich runzelte Nadeya die Stirn, so dass sie Falten schlug. Sie war nicht sicher, was sie von dieser Nachricht halten sollte. In den vergangenen Wochen hatte sie natürlich von den Vorfällen gehört, aber es waren nur minimale Schäden entstanden. Jedenfalls glaubte man das. Denn die Regierung war gut darin manche Fakten einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Natürlich ganz im Sinne, um die Bürger nicht in Sorge zu versetzen oder gar in Panik. Wie auch immer man das finden sollte, vielleicht war es langsam an der Zeit umzudenken?

Nadeya hatte sich schon als Kind viele Gedanken um die Welt gemacht. Sie hatte nie verstanden, warum man nicht traurig sein durfte. Warum man nicht herzhaft lachen konnte, wenn einem danach war. Später ist ihr aufgegangen, dass es nicht einmal viel zum Lachen gab. Also warum sollte man es dann tun? Aber das ist nicht der eigentliche Grund. Man wird dazu erzogen die Gefühle zu unterdrücken oder besser gesagt gänzlich abzuschalten. Dabei hatte sie noch viel mehr das Gefühl, das man dadurch zu einem dieser humanoiden Roboter wurde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wollte sich gedanklich damit nicht weiter befassen und schaltete das Tablet aus, um es auf den Tisch zu legen an dem sie saß. Endlich hob sie auch wieder den Kopf an und sah rüber zu dem Gast, der vorhin hinein gekommen war. Er hatte sich natürlich schon längst einen Sitzplatz an einem Tisch gesucht, aber er wirkte auf seine kühle Art doch etwas irritiert. Nadeya ahnte woran es lag. Es gab keinen Monitor, an dem er sofort die Bestellung tätigen konnte. Die meisten Restaurants und Bars waren nur dafür da, um Geschäfte abzuwickeln oder um tatsächlich schnell etwas zu essen oder zu trinken. Man bestellte nicht beim Kellner, sondern direkt an einem Monitor. Man tippte einfach die Zahl ein von dem, was man haben wollte und die Meldung kam in weniger als einer Sekunde im hinteren Bereich des Lokals an. Ausgeliefert wurde das auf unterschiedliche Art und Weise und doch sehr ähnlich. Denn es war alles automatisiert worden. Entweder kam tatsächlich ein humanoider Roboter, der die Bestellung brachte oder es wurde mittels eines Fließbands zum Kunden gebracht. Menschliche Arbeitskraft war dafür völlig unnötig und so fiel natürlich auch das Trinkgeld aus. In der Bar ihres Vaters war das anders. Nicht nur, dass die Einrichtung immer noch alt wirkte im Gegensatz zu all den modernen Einrichtungen: hier wurde auch direkt an den Tisch gegangen, um die Bestellung aufzunehmen. Keine Monitore, keine automatischen Roboter oder ähnliches, die die Arbeit abnahmen.

Nadeya erhob sich deshalb von ihrem Platz und ging auf den Mann zu. Ihre rote Lockenmähne wippte bei jedem Schritt mit. Sie hatte ihre Haare zu zwei Zöpfe gebunden, aber trotzdem war es kaum möglich es zu bändigen. Damit musste sie einfach leben. Auch damit, dass sie den typischen nachdenklichen Blick erhielt, wenn man sie sah und musterte. Sie konnte erkennen wie die Augen des Fremden an ihrer Statur hinab glitten und an dem Loch in ihrer Hose hängen blieben. Kaum merklich bildete sich eine Denkfalte auf seiner sonst glatten Stirn. Dann huschten bereits die Augen wieder nach oben, die mal nebenbei gesagt von einem satten blau waren. Der Mann war älter als sie. Vielleicht sogar so alt wie ihr Vater, vielleicht auch ein paar jünger als er. So genau konnte sie das nicht einschätzen. Sie war noch nicht einmal in der Lage einzuschätzen ob nicht vor ihr einer der humanoiden Roboter saß. Mal ehrlich: bis auf seine Augen hatte er rein gar nichts an sich bewegt. Ach und die Stirn natürlich. Ansonsten war er starr sitzen geblieben und bewegte sich kaum. Nadeya wagte es kaum auf seinem Brustkorb zu blicken, ob sie ein Ein- und Ausatmen erkennen konnte. Es wäre zu auffällig gewesen, weil er sie ansah und abwartete, was sie tun oder sagen würde. Humanoide oder doch ein Mensch?

»Guten Tag, was darf ich Ihnen bringen?«, stellte sie ihre Frage sofort ohne Umschweife. Als Antwort kam nichts. Nur Schweigen und Anstarren. Das machte sie nervös. Sie hasste so was! Vor allem weil sie sich konzentrieren musste selbst ruhig zu bleiben. Sich nichts anmerken zu lassen, die Fassade aufrecht zu erhalten, die nötig war gegenüber anderen. Dabei war das in der Bar jetzt gar nicht so üblich. Doch die Erscheinung des fremden Gastes ließ darauf schließen, dass er nicht aus der Unterstadt kam. Sein Mantel, den er trug, war weiß. Es bestand aus dem Material, das zu achtzig Prozent für die Herstellung von Kleidung genutzt wurde. Robust, dehnbar und damit anpassungsfähig. Es zerriss auch nicht so schnell. Ähnlich wie ihre Hose, die sie trug. Was sich unter dem Mantel befand, konnte sie nicht erkennen. Er war verschlossen. Das Haar des Mannes war vom dunklen Braun und kurz gehalten. Nichts auffälliges, nicht so wild wie ihre Mähne. Nachdem er jedoch immer noch nichts gesagt hatte und sie allmählich drohte die Geduld zu verlieren, erhob sie wieder ihre Stimme:

»Sir?« Vielleicht hatte er sie nicht verstanden? Hatte sie zu leise gesprochen? Eigentlich nicht. Doch da nutzte auch er endlich seine Stimme.

»Wie … meinen Sie das? Was Sie mir bringen dürfen?«

Eindeutig: Oberstadt! Das war der erste Gedanke, der ihr in den Sinn kam. Er kannte den Ablauf in dieser Bar nicht, war vermutlich den Automatismus in all den anderen Lokalen gewöhnt. Deswegen hatte er vorhin auch kurz so irritiert gewirkt. Anders konnte sie es sich nicht erklären!

»Nun, Sie sind sicher hier her gekommen, weil sie etwas essen oder trinken möchten. Ich nehme Ihre Bestellung auf«, erklärte sie geduldig und freundlich, wenn auch nicht zu freundlich. Ein Lächeln wäre zu viel gewesen. Aber zu neutral wollte sie auch nicht wirken, vor allem weil das nicht ihrer Persönlichkeit entsprach. Wenigstens schien der Herr jetzt sie besser verstanden zu haben, wenn auch wieder das Runzeln der Stirn zu sehen war.

»Verstehe«, meinte er, ohne jedoch zu sagen, was er nun haben wollte.

»Und?«, fragte sie deshalb nach.

Wieder sah er sie nur an. Sie wollte bereits den Mund erneut öffnen, als sich die Tür der Bar meldete. Um genau zu sagen: sie flog förmlich auf, dass man ein polterndes Geräusch hören konnte, was sämtliche Köpfe nach oben zucken ließ. Nicht, dass hier besonders viele Anwesende im Raum waren. Neben Nadeya, dem fremden Gast, ihrem Vater an der Theke und den beiden anderen an einem Tisch weiter hinten, gab es niemanden. Abgesehen von derjenigen, die gerade durch die Tür herein gepoltert kam.

Das hatte Nadeya auch noch nicht erlebt. Erst recht nicht diesen Anblick, der sich ihr bot. Ihre Augen weiteten sich und sie machte ein paar Schritte auf die Person zu, die eben herein gekommen war.

Das schwarze lange Haar war ganz zerzaust, der Körper wies nicht nur mehrere Schmutzflecke auf, als hätte sie sich im Dreck gesudelt, sondern auch Blutflecke. Und Metall. Metall von Modifikationen, die man sonst nicht gesehen hätte, wenn da der Stoff der Kleidung an der rechten Körperseite nicht zerrissen wäre. Nadeya kamen mehrere Fragen in den Sinn, aber keine davon stellte sie. Sie kam auch gar nicht dazu, da bereits die Fremde auf sie zu getaumelt kam. Ja, sie taumelte! Nadeya blieb gar nichts anderes übrig als die Arme nach vorn auszustrecken. Gut, andere Menschen hätten wohl einfach nur dagestanden und dabei zugesehen wie jemand umfiel ohne sich dabei selbst zu rühren. Nicht Nadeya. Sie konnte gerade noch so die Fremde auffangen, damit sie nicht zu Boden ging.

»W-was?« Völlig verwirrt darüber ging sie selbst in die Knie, denn der Körper der Fremden war auch nicht gerade leicht zu halten. Sie schien kurz davor zu sein das Bewusstsein zu verlieren. Also kein Humanoide, sondern wirklich ein Mensch, oder? Wie Nadeya es hasste sich diese Frage zu stellen. Doch heutzutage blieb einem gar nichts anderes übrig, wenn man sich nicht nur mit der oberflächlichen Erscheinung zufrieden geben wollte.

»Helft … mir. B-bitte«, kam es über die Lippen der Fremden. Nadeya hörte außerdem die Schritte hinter sich selbst. Ihr Vater war herbei geeilt, um ihr zu helfen und auch um nachzuschauen, was das alles zu bedeuten hatte.

Anders als Nadeya besaß Nathan Coulinus blondes kurzes Haar und war auch alles andere als zierlich und klein wie die Tochter. Tatsächlich war er über einen Meter Neunzig groß und besaß einen muskulösen Körperbau. Wer klug war, wollte nicht mit seiner Faust Bekanntschaft machen. Man konnte sich denken, dass das ziemlich weh tun würde. Jetzt kam die Stärke ihres Vaters auf jeden Fall zur Hilfe. Als würde die Fremde kaum etwas wiegen, hob er sie an und legte sie auf einen Tisch in der Nähe ab. Das alles war nur in wenigen Wimpernschlägen passiert. Auch die beiden anderen, die noch vorhin am hinteren Tisch gesessen hatten, waren aufgesprungen und herbei geeilt. Nadeya kannte die beiden sehr gut, weil sie mit ihnen aufgewachsen war. Doch bevor irgendwer noch eine Frage stellen konnte, wurde die Tür der Bar erneut aufgerissen. Man hörte das auffällige Geräusch, das Waffen so von sich gaben, wenn sie geladen und in Position gebracht wurden. Einmal gedrückt und man konnte das Leben eines anderen auslöschen. Es waren mehrere Waffen, die zu mehreren Einheiten gehörten. Eine Gruppe vom Ordnungs- und Sicherheitsamt hatte sich vor der Bar stationiert. Die Tür stand sperrangelweit offen und drei der bewaffneten Männer traten herein. Sie trugen, wie es nicht anders für das Amt üblich war, weiße Kleidung, die jeweils an der Seite einen blauen Streifen von oben nach unten besaßen. Es waren weiße Jacken beziehungsweise Mäntel, die etwas länger waren, aber noch über dem Knie aufhörten. Genauso weiß waren auch die Hosen und die Helme, die jeweils den blauen Streifen aufwiesen. Nur die Schuhe oder auch Stiefel, die sie trugen, waren schwarz. Die Helme schützten vor Angriffen und hatten ein blaues spezielles Glasvisier, das sogar Schüsse abblocken konnte. Je nachdem um welche Schusswaffe es sich handelte. Es gab Waffen, die waren so gefährlich, da konnte selbst die Ausrüstung des Ordnungs- und Sicherheitsamtes nichts ausrichten. Nadeya wusste, dass die Männer unter den Mänteln auch schützende Westen und Polsterungen besaßen. Wie genau die aufgebaut waren, wusste sie nicht, aber das spielte auch keine Rolle. Sie selbst war unbewaffnet. Zumindest besaß sie keine Schusswaffe. Kämpfen wollte sie so gesehen eigentlich auch nicht. Wer wollte sich schon mit dem Amt anlegen? Einmal Ärger mit denen und man wurde sie kaum noch los. Man würde nur noch von ihnen beobachtet werden, selbst wenn man nur eine Kleinigkeit angestellt hatte. Und jetzt standen sie auf einmal hier in der Bar und bedrohten ihr Leben?

»D-Dad?«, wandte sie sich an ihren Vater, der ziemlich grimmig drein sah.

 

»Dies ist eine gesetzliche Anordnung vom obersten General. Übergeben Sie die flüchtige Zielperson augenblicklich und Ihnen wird nichts widerfahren. Sollten Sie sich weigern zu kooperieren, machen Sie sich strafbar!« Die Stimme klang weniger menschlich und hatte mehr Ähnlichkeiten mit den Stimmen der bekannten Humanoiden. Es könnte sich hierbei aber genauso gut um einen modifizierten Menschen handeln – einen Synthetiker. Nadeya fand diese Leute noch viel unheimlicher als die Humanoide selbst. Was sollten sie tun? Das logischste war natürlich die Zielperson auszuhändigen. Sie hatten mit ihr nichts zu tun und wussten auch nicht, weshalb sie dermaßen geahndet wurde. Man musste schon was ganz schön krasses angestellt haben, wenn man so schwer bewaffnet verfolgt wurde. Vermutlich hatte die Fremde daher ihre Verletzungen. Apropos …

»B-bitte … « Die Stimme war brüchig, aber noch viel mehr überraschte Nadeya wie flehentlich sie klang. So … gefühlvoll, dass sie eine Gänsehaut davon bekam.

»Oh-oh das gibt Ärger«, meinte Nadeyas bester Freund, der neben ihr stand. Sein schwarzes Haar war nicht ganz so kurz wie das ihres Vaters, aber dafür dreimal so durch zaust. Er hatte schon immer so einen Eindruck hinterlassen, weswegen er von anderen genauso seltsam gemustert wurde wie Nadeya selbst. Seine dunkelbraunen Augen waren fast schwarz, hier in dem eher diffusen Licht erst recht. Aber Nadeya konnte trotzdem den Ernst in seinem Gesicht erkennen.

»Dammisch!«, meinte fluchend das Weibsbild neben ihm, die ebenso mit Nadeya befreundet war. Nadeya kannte den fluchenden Ausdruck von Jessi und sie konnte ihr nur zustimmen. Sie hatten hier ein übles Problem am Hals. Dabei hatte es heute eigentlich ruhig bleiben sollen! Jessi besaß einen Akzent in der Stimme, der sie deutlich von den Bewohnern von Synoria abhob. Obwohl sie bereits als Kind hier her gekommen war, hatte sich dieser Akzent niemals aus der Stimme verflüchtigt. Das lag sicher daran, dass Jessi auch gern in ihrer Muttersprache redete. Diese hatte blondes Haar, war allerdings auch kurz, wenn auch gern mal in sämtliche Richtungen abstehend. Niemals hatte sich Jessi den Regeln der Gesellschaft unterordnen wollen, doch zu einem gewissen Maß war auch sie dazu genötigt worden halbwegs normal zu sein. Normal im Sinne von gefühlskalt. Jessi war nicht dumm. Sie wusste, wann es besser war sich anzupassen und wann man doch einmal so sein konnte wie man eben war. Ihre Augen waren blau und funkelten die Amtsmänner an. Sie hatte diejenigen noch nie leiden können. Sie waren immer so steif und wirkten oft immer so, als würden sie bei jeder falschen Bewegung, bei jedem falschen Wort gleich einem festnehmen wollen.

»Bei drei«, sagte Nadeyas Vater knapp. Die drei anderen wussten sofort was das zu bedeuten hatte.

»Eins!«, begann Nathan bereits zu zählen.

»Dad!«, rief Nadeya, die nicht sicher war, ob das eine so gute Idee war. Andererseits …

»Drei!«, hörte sie ihren Vater bereits rufen. Die Sekunden rasten nur so dahin. Während Daiske sich noch darüber beschwerte »Du hast die zwei ausgelassen!« sprangen sie bereits zur Seite. Ihr Vater warf sich mit der Fremden über den Tisch, der dadurch umfiel und zumindest für einen Moment als Schutzschild dienen konnte, sobald das Schussfeuer frei gegeben wurde. Denn sie wussten, dass es so kommen würde. Nadeya selbst wich mit Daiske und Jessi in die andere Richtung aus. Sie hatten alle dabei den fremden Gast vergessen, der offenbar wie vom Erdboden verschluckt schien. Nadeya konnte ihn im Chaos jedenfalls nicht mehr sehen, als jenes ausbrach. Denn kaum waren sie aus dem Weg gesprungen, flogen Schüsse durch die gesamte Bar und zerbrachen Gläser, Flaschen, zertrümmerten Stühle, Tische und verwandelten die Einrichtung in einen Trümmerhaufen. Ihnen blieb nichts anderes übrig als den Rückzug anzutreten. Nathan hatte das fremde Weib, welches ihnen auf jeden Fall eine Erklärung schuldig war, über die Schulter geworfen und rannte bereits auf die Tür auf der linken Seite zu, wo er am nächsten war. Nadeya und ihre beiden Freunde nahmen die Tür hinter der Theke und mussten dabei höllisch Acht geben nicht von den Schüssen getroffen zu werden. Dass sie überhaupt dort lebend heraus kamen, schien eigentlich unmöglich. Trotzdem schafften sie es. Mit eiligen Schritten durchquerten sie den hinteren Bereich der Bar. Es war nicht nur eine Bar, sondern auch das Zuhause von Nadeya und ihrem Vater. Die Vorstellung, dass hier alles zunichte gemacht wurde, ließ in Nadeya einen dicken Kloß aufkommen, doch sie hatte keine Zeit um darüber näher nachzudenken. Sie mussten fliehen! Denn jetzt, wo sie nicht die Fremde ausgeliefert hatten, standen sie genauso auf der Fahndungsliste wie die Fremde selbst.

»Dammisch, wenn das Weib keine Erklärung dafür hat, bring ich sie selbst um!«, brüllte Jessi wütend während sie lief. Sie hatten den hinteren Bereich durchquert und kamen dadurch auf den Hof. Nadeyas Vater war kurz darauf auch da. Das Gebäude besaß mehrere Ausgänge, deswegen war es auch so praktisch gewesen. Die Frage blieb jedoch wie weit sie überhaupt kommen würden.

»Wir treffen uns im K-13!«, rief er ihnen zu.

»Dad, wir sollten lieber … !«, lenkte Nadeya sofort ein, denn ihr gefiel es gar nicht, dass ihr Vater sie dazu anwies sich zu trennen.

»Macht schon!« Wie es so typisch für ihn war akzeptierte er kein Nein. In dieser verzwickten Lage erst recht nicht. Daiske, der ohne Einwände gehorchen würde, schnappte sich Nadeyas Arm und zerrte sie bereits weiter. Jessi war schon weiter vor gerannt und hatte die beiden Motorräder startklar gemacht, die hier auf dem Hof standen. Sie gehörten Jessi und Daiske und besonders Daiske schraubte gern an den Fahrzeugen herum. Sie mussten nur noch aufspringen. Nadeya blieb nichts anderes übrig, als hinter Daiske aufzusteigen und sich an ihm festzukrallen, damit sie bei dem rasanten Tempo nicht einfach herunter purzelte. Ihren Vater hatte sie bereits aus den Augen verloren, als er um die nächste Häuserecke gelaufen war. Er schleppte die Fremde. Würde er sich dadurch nicht erst recht in Gefahr bringen? Er lenkte dadurch schließlich die Aufmerksamkeit auf sich. Nadeya biss sich auf die Lippen. Sie wollte ihren Vater nicht auch noch verlieren! Schließlich hatte sie schon früh ihre Mutter verloren und es schmerzte sie bis heute. Sie wollte nicht zur Vollwaise werden …

 

 

Fortsetzung folgt (siehe oben).