Schattenmond

Genre: Fantasy

 

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Schattenmond

 

Es war das erste Mal. Der Wind pfiff durch die Äste der Bäume und brachte das Laub zum Rascheln. Dann wurde es still. Ja, es war das erste Mal, dass er ganz allein unterwegs war. Er hatte sich weggeschlichen, als er davon überzeugt war, dass die anderen schliefen oder ihn nicht bemerken würden. Seitdem seine kleinen Geschwister auf der Welt waren, drehte sich alles um sie und das gab ihm die Möglichkeit sich unter den Augen der Erwachsenen wegzuschleichen. Genau das hatte er diese Nacht vor.

Nein, er würde nicht weglaufen. Seine Heimat war schön, seine Familie zwar manchmal streng, aber auch das Einzige, was er besaß. Er war zufrieden, auch wenn in ihm der Wunsch pulsierte mehr von der Welt zu sehen. Der alte Graupfote amüsierte sich gerne über ihn, hatte gemeint, dass er langsam in eine rebellische Phase kam. Dabei musste dazu gesagt werden, dass er recht pflegeleicht war. Eine extrovertierte Seite besaß er nicht. Lieber beobachtete er die anderen aus dem Hintergrund und überließ ihnen den Mittelpunkt. So war er schon immer gewesen, was vermutlich an seiner dramatischen Geburt lag. Denn beinahe wäre nicht nur seine Mutter an dieser gestorben, sondern auch er selbst. Viele aus seiner Familie dachten deshalb, dass er so … anders war. Weniger euphorisch. Er blieb meistens zurückhaltend, was jedoch nicht bedeutete, dass er nicht seine Position verteidigte. Schüchtern war er nicht, nur … zurückhaltend. Er wollte seinen eigenen Weg einschlagen und das tat er diese Nacht. Denn den Wald hatte er in dieser Dunkelheit noch nicht erlebt.

Nebelschatten konnte das Rufen der Eulen im Wald hören, ebenso das leise Zirpen der Insekten. Er hörte es hier und dort knacken und ging weiter. Mit nackten Füßen nahm er den Waldboden wahr und war es gewohnt. Er liebte es sogar! Deswegen freute er sich, so dass ein selten gesehenes Lächeln auf seinen Lippen entstand.

Ruckartig blieb er stehen, als er zwischen den Büschen hindurch huschte und dann das Heulen im Hintergrund hörte. Andächtig lauschte er und wusste, dass Butterblume und Adlerauge unterwegs waren, um Patrouillen im Revier zu machen. Sie achteten darauf, dass auch nachts sich niemand zu ihnen verirrte, damit kein anderes Rudel ihnen zu nahe kam. Nebelschatten fühlte sich sicher. Butterblume und Adlerauge waren zu weit weg, um ihn hier zu entdecken, daher lief er weiter. Wüssten sie es, dass er durch den Wald wetzte, wären sie böse auf ihn geworden und hätten ihn zurück zu den Alphas gebracht – seinen Eltern. Das wollte er nicht, denn sein Ziel lag an der Grenze des Reviers, direkt am Ende der Baumreihen, wo ein sehr breiter Fluss durch das Gebiet floss. Er bildete dadurch zwei Teile des großen Waldes, was wiederum dazu führte, dass sich zwei Rudel niedergelassen hatten. Einmal die Seite, auf der Nebelschattens Familie lebte und dann eben die andere Seite des Flusses, wo er noch niemals gewesen war. Diese andere Seite interessierte ihn sehr und er würde zu gerne mal rüber schauen, wie es dort aussah. Gab es andere Tiere, die man jagen konnte? Wie war das Rudel dort, welches seine Familie als Feinde ansah? Man war sich nie begegnet, zumindest war Nebelschatten bei solch einem Aufeinandertreffen nie dabei gewesen. Meistens ging man sich aus dem Weg, aber das war Nebelschatten nicht genug. Er wollte mehr sehen!

Mehr zu sehen bekam er auch, als er tatsächlich den Waldrand erreichte und auf den Fluss hinab blickte. Dadurch, dass er sich seinen Weg durch dieses Gebiet suchte, grub das Wasser sich immer weiter tiefer in die Erde hinein. Um auf die andere Seite zu kommen, konnte man über die Felsen im Wasser springen oder direkt schwimmen. Ob er es wagen sollte? Gerade als Nebelschatten sich zum Flussufer aufmachen wollte, erkannte er eine Bewegung auf der anderen Seite des Flusses. Sofort war er alarmiert und duckte sich hinter ein paar Büschen. Seine silberblauen Augen fixierten das Geschöpf auf der anderen Seite. Er musste warten, um es richtig zu erkennen, denn das Wesen sprang über die Felsen. Bevor es seine Seite erreichte, rutschte es aus und fiel ins Wasser. Erschrocken darüber sprang Nebelschatten aus seinem Versteck und lief zum Fluss. War es weg? Untergegangen? Er suchte die Wasseroberfläche ab, die ruhig dalag. Der Fluss war an dieser Stelle nicht so wild wie weiter südlich. Als er schon glaubte nichts mehr zu sehen, brach jemand durch die Wasseroberfläche, weswegen er ein paar Schritte zurück taumelte und mit großen Augen dabei zusah, wie das kleinere Geschöpf ans Flussufer watete.

„Oh Mist“, fluchte sie, denn es war ein Mädchen, mindestens ein Kopf kleiner als er. Ihre Haare waren sehr hell und hingen nass an ihrem zierlichen Körper hinab. Ihre Augen leuchteten bernsteinfarben und sonst sah sie nicht viel anders aus, als die Wölfe aus seinem Rudel. Sie trug das Wolfsfell um Hüfte und Oberkörper und das Ende der Wirbelsäule bildete die Rute eines Wolfes. Sie waren Wolfsmenschen, in der Lage die Formen zu ändern wie sie wollten und doch waren sie niemals rein menschlich. Die Rute war Teil ihres Aussehens und half ihrem Gleichgewichtssinn. Das Mädchen ihm gegenüber wies weißes Fell auf. Dort, wo nicht nur die menschliche Haut zu sehen war, war sie mit weißen Fell bedeckt. Das war … ungewöhnlich. In Nebelschattens Rudel gab es keine weißen Wölfe. Sie waren braun oder grau, meistens mehrfarbig mit ein bisschen weiß, aber rein weiß? Nein, das nicht.

„Oh?“ Sie bemerkte ihn und ihm selbst fiel auf, dass er sie die ganze Zeit nur angestarrt hatte, ohne etwas zu sagen. Auch jetzt fiel ihm nichts ein, was er sagen sollte. War sie nicht vom feindlichen Rudel? Musste er sie nicht daher vertreiben und deswegen eine abwehrende und knurrende Haltung einnehmen? Selbst wenn, er tat es nicht und beobachtete sie, wie sie den Kopf leicht zur Seite legte und ihn neugierig musterte. Er selbst hatte dunkles Haar und eine schwarze Rute, sowie sein Fell am Leib ebenfalls von dunkler Farbe war. Er kam mehr nach seinem Vater und wies kaum Ähnlichkeiten mit seiner Mutter auf.

„Wer bist du?“, wollte sie wissen. Ihre Stimme war hell und klar. Da er aber nicht antwortete, ergriff sie erneut das Wort.

„Kannst du nicht sprechen?“, fragte sie und kam näher auf ihn zu, umrundete ihn, musterte ihn, beäugte ihn von allen Seiten. Es war ihm unangenehm und gleichzeitig war er über dieses Verhalten verwirrt. So viel Neugierde für ihn war er nicht gewohnt! Da seine Familie ihn von seiner Geburt an kannte, kamen sie ihm nie so nahe. Denn obwohl Nähe unter Wölfen etwas Selbstverständliches war, hatte er sich frühzeitig dieser Nähe entzogen. Er wusste nicht einmal warum, nur dass es ihm so lieber war.

„Was … machst du hier?“, fragte er, als er sich an seine eigene Stimme erinnerte, ohne auf ihre Fragen einzugehen.

„Ich? Oh, ich wollte mal gucken wie es hier so ist! Und schauen, ob hier wirklich so böse Wölfe leben wie mein Großvater immer sagt!“, plapperte sie drauf los und überraschte ihn noch mehr.

„Aber du siehst nicht gerade böse aus, sondern ganz normal“, meinte sie und legte den Kopf auf die andere Seite.

„Äh … “ Was sollte er auf so viel Neugier und Sprachgewalt noch antworten? Selbst wenn er gewollt hätte, er kam nicht mehr dazu. Im Hintergrund hörte er wieder das Heulen von Butterblume und Adlerauge und wusste, sie waren ganz nahe.

„Schnell, du musst hier weg!“, drängte er die weiße Wölfin wieder zu gehen. „Wenn sie dich sehen, dann … !“ Die kleine Wölfin verstand ihn, auch wenn sie so wirkte, als wollte sie sich nur ungern verabschieden. Nebelschatten musste sie sogar zum Fluss schieben. Er dachte nicht einmal darüber nach, sondern tat es einfach. Warum? War sie nicht ein Feind? Warum schützte er sie?

„Seh' ich dich wieder?“, wollte sie wissen bevor sie den Fluss überqueren würde. Nebelschatten sah sie verdutzt an. Was es auch war, was er in ihren Bernsteinaugen erkennen konnte, es führte dazu, dass er zustimmend nickte. Das löste ein freudiges Lächeln auf ihren Lippen aus, was sein Herz zum Stolpern brachte.

Was war das?

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, musste sie gehen, weswegen sie auf den ersten Felsen sprang.

„Dann sehen wir uns bald wieder, ja? Äh … “, stutzte sie nun selbst. Er verstand sofort.

„Nebelschatten“, antwortete er, denn seinen Namen hatte er noch nicht genannt.

„Gut, Nebelschatten! Dann sehen wir uns bald wieder! Ich bin Mondblüte“, rief sie ihm zu und sprang von einem Fels auf den anderen, um auf die andere Seite zu kommen. Nebelschatten konnte nichts anderes tun, als ihr hinterher zu starren. Was war das für eine Begegnung eben gewesen?

„Nebelschatten!“ Als er seinen Namen mit einem wilden Knurren hörte, zuckte er zusammen, duckte sich ein wenig und drehte sich um. Er wusste, dass er gleich mächtig Ärger bekommen würde, denn Adlerauge hatte den Waldrand erreicht und neben ihm stand Butterblume in ihrem hellen Fell, was ihr den Namen als Welpe eingebracht hatte.

Trotz allem wusste er, dass er bald schon wieder in einer Nacht zum Fluss kommen würde.

Wegen Mondblüte.

 Es war das erste Mal. Der Wind pfiff durch die Äste der Bäume und brachte das Laub an ihnen zum Rascheln. Dann wurde es wieder still. Ja, es war das erste Mal, dass er ganz allein unterwegs war. Er hatte sich weg geschlichen, als er davon überzeugt war, dass die anderen schliefen oder ihn nicht bemerken würden. Bisher hatten die anderen immer darauf aufgepasst, dass er in seiner Höhle blieb, vor allem zu so später Stunde. Aber diesmal nicht, denn sie waren zu beschäftigt oder einfach auch nur zu erschöpft gewesen. Seitdem seine kleinen Geschwister auf der Welt waren, drehte sich alles um sie und das gab ihm die Möglichkeit sich unter den Augen der Erwachsenen wegzuschleichen und seinen eigenen Weg zu gehen. Genau das hatte er diese Nacht vor. 

Nein, er würde nicht weglaufen. Warum sollte er das auch? Seine Heimat war schön, seine Familie zwar manchmal streng, aber auch das Einzige, was er besaß. Er war zufrieden damit, auch wenn in ihm der Wunsch pulsierte mehr von der Welt zu sehen. Was sollte man dazu sagen? Der alte Graupfote amüsierte sich gerne mal über ihn, hatte gemeint, dass er langsam in eine rebellische Phase kam. Dabei musste dazu gesagt werden, dass er eigentlich recht pflegeleicht war. Eine extrovertierte Seite besaß er nicht. Lieber beobachtete er die anderen aus dem Hintergrund heraus und überließ ihnen den Mittelpunkt. So war er schon immer gewesen, was vermutlich an seiner dramatischen Geburt lag. Denn beinahe wäre damals nicht nur seine Mutter an dieser gestorben, sondern auch er selbst. Die alte Silberauge hatte gemeint, dass er sogar für mehrere Minuten lang tot dagelegen hatte. Viele aus seiner Familie dachten deshalb, dass er so … anders war. Anders als die anderen. Weniger euphorisch, wenn man sich begrüßte, weniger aufgeweckt als die anderen in seinem Alter, die mit purer Lebensfreude durch den Wald jagten, sich gegenseitig fingen und spielten. Er blieb meistens zurückhaltend, was jedoch nicht bedeutete, dass er nicht seine Position verteidigte. Schüchtern war er nicht, nur … zurückhaltend. Er handelte dann, wenn er es für nötig hielt. Vielleicht war er auch einfach zu nachdenklich für die anderen, wer wusste das schon? Es war ihm auch völlig egal. Er wollte seinen eigenen Weg einschlagen und das tat er diese Nacht. Denn den Wald hatte er in dieser Dunkelheit noch nicht erlebt. 

Eigentlich hatte er gedacht, dass nicht so viel los sein würde, dass er kaum etwas wahrnehmen würde, ganz gleich ob mit Nase oder Ohren. Doch da irrte er sich gewaltig! Nebelschatten konnte das Rufen der verschiedenen Eulen im Wald hören. Ebenso aber auch das leise Zirpen der Insekten oder das Rascheln des Windes im Geäst weiter oben, wo er nicht heran kam. Er konnte es hier und dort knacken hören und wusste, dass der Wald auch nachts lebte. Das war fazinierend, wenn auch auf mancher Weise beängstigend. Doch er war nicht hier, um den Schwanz einzuziehen! Er wollte mehr sehen, mehr entdecken und so ging er weiter. Seine Füße nahmen den Boden unter sich genauso wahr, wie am Tage. Hinab gefallene Blätter, Moos oder einfach nur Erde, auf der kleine Äste und Steine lagen, stellten keine Probleme dar. Er war es gewohnt mit nackten Füßen durch den Wald zu laufen. Er liebte es sogar! Deswegen freute er sich, so dass man ein selten gesehenes Lächeln auf seinen Lippen beobachten konnte, wäre nur jemand anderes bei ihm. Da er jedoch allein unterwegs war, würde niemand Zeuge seiner Mimik werden. Das war ihm recht so.

Ruckartig blieb er stehen, als er zwischen den Büschen hindurch gehuscht war und dann das Heulen im Hintergrund hören konnte. Andächtig lauschte er und wusste, dass Butterblume und Adlerauge unterwegs waren, um Patrouillen im Revier zu machen. Sie achteten darauf, dass auch nachts sich niemand zu ihnen verirrte, damit kein anderes Rudel ihnen zu nahe kommen konnte. Nebelschatten fühlte sich sicher. Butterblume und Adlerauge waren zu weit weg, um ihn hier zu entdecken, daher lief er weiter. Wüssten sie es, dass er durch den Wald wetzte, wären sie böse auf ihn geworden und hätten ihn zurück zu den Alphas gebracht – seinen Eltern. Das wollte er nicht, denn sein Ziel lag an der Grenze des Reviers, direkt am Ende der Baumreihen, wo sich ein sehr breiter Fluss einen Weg durch das Gebiet bahnte. Er bildete dadurch zwei Teile des großen Waldes, was wiederum dazu geführt hatte, dass sich zwei Rudel niedergelassen hatten. Einmal die Seite, auf der Nebelschattens Familie lebte und dann eben die andere Seite des Flusses, wo er noch niemals gewesen war. Diese andere Seite interessierte ihn sehr und er würde zu gerne mal rüber schauen, wie es dort aussah. Gab es andere Tiere, die man jagen konnte? Wie war das Rudel dort, welches seine Familie als Feinde ansah? Man war sich nie begegnet, zumindest war Nebelschatten bei solch einem Aufeinandertreffen nie dabei gewesen. Meistens ging man sich aus dem Weg, aber das war Nebelschatten nicht genug. Er wollte mehr sehen!

Mehr zu sehen bekam er auch, als er tatsächlich den Waldrand erreichte und auf den Fluss hinab blicken konnte. Dadurch, dass er sich seinen Weg durch dieses Gebiet suchte, grub das Wasser sich immer weiter tiefer in die Erde hinein. Irgendwann könnte hier einmal eine tiefe Klippe sein, die man gar nicht mehr überqueren konnte. Doch aktuell war es möglich auf die andere Seite zu kommen, wenn man über ein paar Felsen im Wasser sprang oder direkt durch das kühle Nass schwamm. Ob er es wagen sollte? Gerade als Nebelschatten sich zum Flussufer aufmachen wollte, erkannte er eine Bewegung auf der anderen Seite des Flusses. Sofort war er alarmiert und duckte sich hinter ein paar Büschen weg. Seine silberblauen Augen fixierten das Geschöpf auf der anderen Seite. Er musste warten, um es richtig erkennen zu können, denn das Wesen sprang doch tatsächlich über die Felsen. Bevor es jedoch seine Seite erreichte, rutschte es aus und fiel ins Wasser. Erschrocken darüber sprang Nebelschatten aus seinem Versteck hervor und lief zum Wasser. War es weg? Untergegangen? Er suchte die Wasseroberfläche ab, die ruhig dalag. Der Fluss war an dieser Stelle nicht so wild wie weiter südlich. Deswegen war das hier eine perfekte Stelle, um ihn zu überqueren. Als er schon glaubte nichts mehr zu entdecken, brach jemand durch die Wasseroberfläche, weswegen er ein paar Schritte zurücktaumelte und mit großen Augen dabei zusah, wie das kleinere Geschöpf ans Flussufer watete.

„Oh Mist“, fluchte sie, denn es war ein Mädchen, mindestens ein Kopf kleiner als er. Ihre Haare waren sehr hell und hingen nass und tropfend an ihrem zierlichen Körper hinab. Ihre Augen leuchteten bernsteinfarbend und ansonsten … Ansonsten sah sie nicht viel anders aus, als diejneigen, die er aus seinem eigenen Rudel kannte. Ihre Haut war etwas dunkler, wie es typisch für sie alle war, da die Sonne sie bräunte. Sie trug auch das Wolfsfell um Hüfte und Oberkörper und das Ende der Wirbelsäule war ebenfalls die Rute eines Wolfes. Sie waren Wolfsmenschen, in der Lage die Formen zu ändern, wie sie wollten und doch waren sie niemals rein menschlich. Die Rute war Teil ihres Aussehens und half ihrem Gleichgewichtssinn. Das Mädchen ihm gegenüber wies weißes Fell auf. Dort, wo nicht nur die menschliche Haut zu sehen war, war sie mit weißen Fell bedeckt. Das war … ungewöhnlich. In Nebelschattens Rudel gab es keine weißen Wölfe. Sie waren braun oder grau, meistens mehrfarbig mit ein bisschen weiß, aber rein weiß? Nein, das nicht. 

„Oh?“ Sie bemerkte ihn und ihm selbst fiel auf, dass er sie die ganze Zeit nur angestarrt hatte, ohne etwas zu sagen. Auch jetzt fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen sollen. War sie nicht vom feindlichen Rudel? Musste er sie nicht daher vertreiben und deswegen eine abwehrende und knurrende Haltung einnehmen? Selbst wenn, er tat es nicht und beobachtete sie, wie sie den Kopf leicht zur Seite legte und ihn neugierig musterte. Er selbst hatte dunkles Haar und eine schwarze Rute, sowie sein Fell am Leib ebenfalls von dunkler Farbe war. Er kam mehr nach seinem Vater und wies kaum Ähnlichkeiten mit seiner Mutter auf. 

„Wer bist du?“, wollte sie wissen. Ihre Stimme war hell und klar. Da er aber nicht antwortete, ergriff sie erneut das Wort.

„Kannst du nicht sprechen?“, fragte sie und kam näher auf ihn zu, umrundete ihn, musterte ihn, beäugte ihn von allen Seiten. Es war ihm unangenehm und gleichzeitig war er über dieses Verhalten verwirrt. So viel Neugierde für ihn war er nicht gewohnt! Da seine Familie ihn von seiner Geburt an kannte, kamen sie ihm nie so nahe. Denn obwohl Nähe unter Wölfen etwas Selbstverständliches war, hatte er sich frühzeitig dieser Nähe entzogen. Er wusste nicht einmal warum, nur dass es ihm so lieber war. 

„Was … machst du hier?“, fragte er, als er sich an seine eigene Stimme erinnerte, ohne auf ihre Fragen einzugehen.

„Ich? Oh, ich wollte mal gucken wie es hier so ist! Und schauen, ob hier wirklich so böse Wölfe leben wie mein Großvater immer sagt!“, plapperte sie drauf los und überraschte ihn noch mehr.

„Aber du siehst nicht gerade böse aus, sondern ganz normal“, meinte sie und legte den Kopf auf die andere Seite. 

„Äh … “ Was sollte er auf so viel Neugier und Sprachgewalt noch antworten? Selbst wenn er gewollt hätte, er kam nicht mehr dazu. Im Hintergrund hörte er wieder das Heulen von Butterblume und Adlerauge und wusste, sie waren ganz nahe.

„Schnell, du bist hier weg!“, drängte er die weiße Wölfin wieder zu gehen. „Wenn sie dich sehen, dann … !“ Die kleine Wölfin verstand ihn, auch wenn sie so wirkte, als wollte sie nur ungern schon wieder gehen.

„Seh ich dich wieder?“, wollte sie wissen bevor sie den Fluss überqueren würde. Nebelschatten sah sie verdutzt an. Was es auch war, was er in ihren Bernsteinaugen erkennen konnte, es führte dazu, dass er zustimmend nickte. Das löste ein freudiges Lächeln auf ihren Lippen aus, dass sein Herz zum Stolpern brachte. 

Was war das?

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, musste sie gehen, weswegen sie auf den ersten Felsen sprang.

„Dann sehen wir uns bald wieder, ja? Äh … “, stutzte sie nun selbst. Er verstand sofort.

„Nebelschatten“, antwortete er, denn seinen Namen hatte er noch nicht genannt.

„Gut, Nebelschatten! Dann sehen wir uns bald wieder! Ich bin Mondblüte“, rief sie ihm zu und sprang von einem Fels auf den anderen, um auf die andere Seite zu kommen. Nebelschatten konnte nichts anderes tun, als ihr hinterher zu starren. Auf der anderen Seite verschwand sie zwischen Büschen und Bäumen. Was war das für eine Begegnung eben gewesen? 

„Nebelschatten!“ Als er seinen Namen mit einem wilden Knurren hörte, zuckte er zusammen, duckte sich ein wenig und drehte sich um. Er wusste, dass er gleich mächtig Ärger bekommen würde, denn Adlerauge hatte den Waldrand erreicht und neben ihn stand Butterblume in ihrem hellen Fell, was ihr den Namen als Welpe eingebracht hatte. 

Trotz allem wusste er, dass er bald schon wieder in einer Nacht zum Fluss kommen würde.

Wegen Mondblüte.