Erinnerungen

Genre: Trauer, Wahre Geschichte

 

Es gibt Tage, an denen will man sich einfach nur verkrümmeln und sich vor der Welt verstecken. Nachdem ich diese Geschichte geschrieben hatte, erging es mir genauso. Ich hatte seit Anfang September bereits vorgehabt so etwas Ähnliches zu schreiben, um das Erlebte zu verarbeiten. 

 

Alles, bis auf zwei kleine Details, beruht auf reale Ereignisse bzw. Momente. Sie sind nicht aus der Luft gegriffen und sie sind auch nicht erfunden. Die zwei Dinge, die leicht verändert wurden, sind zum einen das Alter des Kindes. Zum anderen, dass die Oma nicht backt. Das hat sie nie getan, dafür gab es aber immer bei ihr Kekse und andere Leckereien auf dem Tisch, die man vernaschen konnte. 

In der Geschichte stecken unglaublich viele Emotionen drin. Emotionen, die vor allem den Autor schwer berühren und deswegen ziemlich zerrütten. 

 

Viele Grüße

Alexia Drael

 

Das Kopieren bzw. Entwenden der Bilder wie auch Texte sind ohne ausdrückliche Erlaubnis von Alexia Drael nicht erlaubt.


Erinnerungen

 

Mit festem Drücken schwang die Tür nach innen auf und ließ mich ins Innere hinein rennen. Aufgeregt schlug mein kleines Herz in der Brust, welches in den letzten Tagen sonst bei allen eher schwer war. Die vergangenen Tage waren nicht einfach gewesen und der heutige Besuch sollte wenigstens für ein bisschen Trost sorgen. 

Weil ich noch viel zu klein war, musste ich mich auf meine Zehenspitzen stellen, um die Türklingel zu erreichen. Meine Mama lächelte mir dabei zu, besaß aber immer noch den traurigen Ausdruck in ihren Augen. Wenn ich könnte, würde ich ihr die Trauer wegzaubern, aber weder war ich eine große Magiern noch reichte mein Kinderlächeln aus, um ihr schweres Herz zu erleichtern. Ich selbst war auch traurig, freute mich aber trotzdem, meine Oma besuchen zu können. Diese öffnete gerade die Haustür und ließ uns eintreten. Sofort rannte ich meiner Oma entgegen und schlang meine Ärmchen um sie. 

»Oma!«, rief ich aus und lockte ein kleines Lächeln auf ihren Lippen hervor. 

»Meine Kleine«, sagte sie und begrüßte noch meine Eltern. Derweil setzte ich mich auf die Couch im Wohnzimmer, wo meine Oma schon die Kekse auf den kleinen Tisch drapiert hatte. 

»Nimm nur, nimm«, forderte sie mich wie immer auf und ich griff sogleich nach einem Keks, um ihn mir zwischen die Lippen zu schieben. Ich liebte Omas Kekse, was nur ein Grund war, warum ich so gerne zu ihr kam. 

Mit einem leisen Ächzen setzte sie sich neben mich und wieder lächelte ich sie an. Meine Mama hingegen war noch beschäftigt in der Wohnung unterwegs. Irgendwas Wichtiges hatte sie mitgebracht, was sie in der Küche auf dem Tisch ablegte. Ich verstand diesen ganzen Erwachsenenkram nicht wirklich und blickte auf das Foto, welches über dem Fernseher an der Wand hing. Tiefe Falten zogen sich durch das lächelnde Gesicht, die Augen ganz schmal durch das Lachen zusammen gekniffen. Es war ein sehr schönes Foto. Eines, wo mein Opa sehr glücklich aussah. Ich mochte es sehr, blickte aber wieder zurück zu meiner Oma. Diese hatte sich gerade noch mit meiner Mama unterhalten, weswegen ich sie leicht am Arm an stupste. Ihre blauen Augen huschten in meine Richtung, als sie die Berührung wahrnahm und mit einer nebensächlichen Handbewegung strich sie eine graue Strähne aus ihrem Gesicht.

»Omaaaa«, begann ich. »Wie hast du eigentlich Opa kennengelernt?«, wollte ich von ihr wissen.

»Ach«, sagte sie und driftete zurück in ihre Erinnerungen. Gespannt sah ich sie an, denn ich liebte es, wenn meine Eltern oder meine Oma von alten Zeiten erzählten. Manches verstand ich nicht oder konnte es nicht nachvollziehen, aber vieles klang auch schön. Beispielsweise wusste ich auch, dass meine Eltern sich auf der Arbeit kennengelernt haben. Aber bei meiner Oma und meinem Opa hatte ich noch nie nachgefragt. Jetzt sah ich meine Oma interessiert an, als sie ihre Lippen öffnete und die ersten Worte formulierte. 

»Damals besaßen wir nicht viel«, erzählte sie von den alten Zeiten. Wie es damals gewesen sein musste, war für mich - als Kind des Friedens - kaum vorstellbar. Meine Oma hingegen hatte noch das Ende des Krieges mitbekommen und auch die Zeit danach war wohl sehr schwer gewesen. Sie haben nie viel besessen, doch sie waren damit ausgekommen. Erfinderisch waren sie gewesen, um sich im Alltag auszuhelfen. 

»Wir haben alte Stoffe zusammen geklaubt und daraus hübsche Decken genäht.« Schon lange waren diese alten Decken weg geworfen. Heutzutage konnte man alles kaufen, egal, was man brauchte. Aber in vergangener Zeit hatte es selbst an den einfachsten Dingen gefehlt.

»Eine dieser Decken habe ich dann immer zum Picknicken mitgenommen. Mein Korb war dann mit allerlei Selbstgebackenem gefüllt und selbstgemachter Limonade“, erzählte meine Oma weiter.

»Ich erinnere mich noch an deine Limos. Die hast du ewig nicht mehr gemacht«, warf meine Mama ein. Mit einem Nicken erzählte meine Oma weiter … 

Als sie noch jung waren, haben sie viel Schabernack angestellt. Sie haben ihr Leben gelebt und das Beste daraus gemacht. Was sollten sie auch sonst tun? Von depressiver Nachkriegszeit war nicht die Rede. Es war gewiss nicht immer einfach, aber sie waren glücklich gewesen. Als sie eines Tages mit ihren Freundinnen picknicken wollten, fuhren sie auf ihren Fahrrädern zum See. Es war ein herrlich sonniger Tag gewesen und den Weg zum See haben sie viele Male schon genommen. Auch an jenem Tag fuhren sie die gleiche Strecke über die Hügel und dann den kleinen Abhang hinunter. Ob es daran lag, dass die Bremsen nicht mehr richtig funktioniert hatten oder weil sie einfach zu risikofreudig gewesen war, daran konnte sich meine Oma nicht mehr erinnern.

»Ich war dumm gewesen«, meinte sie zwischendurch und winkte mit der Hand ab, schüttelte den Kopf über sich selbst. »Was war ich dumm!«, betonte sie noch einmal und erzählte weiter. Mit dem Fahrrad fuhr sie den Abhang hinab. Der Weg war etwas holprig, sie musste über ein paar Steine fahren und ehe sie sich versah, lag sie auch schon im See. Das Fahrrad ebenso und der ganze Picknickkorb wurde überschwemmt. Was hatten ihre Freundinnen darüber gelacht und auch ich selbst konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Denn so wie es meine Oma erzählte, klang es lustig. Sie machte sich selbst nichts daraus. Damals hatte sie sich wohl geschämt, doch heute spielte das für sie keine Rolle mehr. Ihr Kleid war durchnässt gewesen und mit einem tiefen Seufzen ärgerte sie sich, dass ihre feine Dauerwelle ruiniert war. 

»Seitdem«, erklärte meine Oma. »Fuhr ich nie wieder Fahrrad!« Ich war erstaunt über diese Aussage, denn immer hatte ich angenommen, meine Oma konnte es einfach nicht. Doch das dieses Ereignis dazu geführt hatte, verwunderte eigentlich auch nicht.

Sie erzählte weiter, dass an jenem Tag am See auch eine Gruppe junger Männer da gewesen war. Mit denen hatten sie dann die Zeit verbracht. Nun, aus dem schönen Picknick war nichts geworden, aber das war nicht weiter tragisch. 

»Darunter war auch Opa gewesen«, sagte sie und lächelte. Jetzt kam wohl der interessanteste Teil, doch eine weitere Aussage überraschte mich.

»Ich hab ja den Sportler gewollt!«, meinte sie und meine Mama lachte auf. 

»Aber der Opa hat halt mich ausgesucht«, zuckte meine Oma mit den Schultern und ließ es so stehen. Unter den jungen Männern war mein Opa gewesen, der knapp sechs Jahre älter als meine Oma war. Er schien gleich ein Auge auf sie geworfen zu haben, obwohl sie selbst an den sportlichen Junggesellen interessiert gewesen war. Dabei musste man erwähnen, dass auch mein Opa nicht ganz unsportlich war. Meine Mama hatte immer erzählt, wie er damals in seiner Jugend sogar Handstand auf dem Fahrrad vollführt hatte. Für mich klang das immer unglaublich, weil mir die Vorstellungskraft dafür fehlte, wie man das machen konnte. Doch auch meine Oma bestätigte diese Aussage und lächelte bei dieser Erinnerung. Ja, mein Opa hat viel getan, war ein lustiger Mann gewesen, denn er hatte auch viele Späße gemacht. Er war musikalisch gewesen und hatte verschiedene Instrumente gespielt. Seine Familie hatte aber für ihn einfach alles bedeutet. Handwerklich war er auch geschickt gewesen. Ich erinnerte mich, wie er aus Holz kleine Schubkarren und Wagen gebastelt hatte. Ein kleiner Holzwagen, wo ich eines meiner Spielzeugpferde davor anspannen konnte. Im Nachhinein stellte ich erstaunt fest, dass mein Opa wirklich viele Talente gehabt hatte. Mir war das noch nie so bewusst gewesen wie gerade jetzt. Jetzt, wo wir über Opa redeten und sinnierten, was er alles in seinem Leben so getan hatte. Viel hatte er selbst nie erzählt, besonders nicht aus Kriegszeiten. Nur meine Mama hatte einmal erwähnt, dass der Vater meines Opas ein Kriegsheld war und irgendwo im Nachbarland sogar eine Statue von ihm gab. Irgendeine Art Andenken, weil er so vielen Flüchtlingen geholfen hatte, damit sie nicht ermordet wurden. Ich konnte mir das kaum vorstellen und dachte nicht so viel darüber nach. Aber zu wissen, dass es Helden in meiner Familie gab, war manchmal überwältigend … unvorstellbar. Nichtsdestotrotz war dieser Held früh gestorben und mein Opa ohne Vater aufgewachsen. 

 

Gemeinsam blickten wir wieder auf das Foto über dem Fernseher. Meiner Oma entwich ein kleines Schluchzen und ich rückte näher zu ihr hin, um ihr Trost zu spenden. Dass mein Opa nicht mehr da sein sollte, wollte mir selbst nicht richtig in den Kopf gehen. Wir alle erwarteten insgeheim, dass er gleich die Tür vom Schlafzimmer öffnete und ins Wohnzimmer kam. Aber er kam nicht. Er konnte nicht mehr. Dort, wo er jetzt war, würde er es bestimmt gut haben. Vielleicht sah er auch lächelnd zu uns herab und erinnerte sich mit uns an die alten und schönen Zeiten. So wie ich es gerne tat und mich an all die Familienfeste erinnerte, wo er gelacht hatte. Wo er der Erste war, der das Tanzbein geschwungen hatte. Wie er manchmal meinen Hut nahm und ihn sich selbst aufsetzte … Das war mein Opa gewesen. 

Ich würde ihn nie vergessen. 

 

- In Gedenken an meinem verstorbenen Opa, der unglaubliche Talente besaß und

der uns so plötzlich und dramatisch verlassen musste. -

13.08.2017