Im Mondlichtschein

Genre: Fantasy

 

Vorwort

 

Dies ist eine Geschichte, die durch ein Gespräch mit einer besonderen Person inspiriert wurde. Ich wollte sie schon 2016 schreiben, kam aber nie dazu, so dass ich es erst Februar/März 2017 endlich getan habe. Es ist eine nachdenkliche Geschichte. 

 

 

Das Kopieren bzw. Entwenden der Bilder wie auch Texte sind ohne ausdrückliche Erlaubnis von Alexia Drael nicht erlaubt.

 

Im Mondlichtschein

 

Es war ein grauer, sehr verregneter Tag, als sich die seltsamen Ereignisse im Dorf mehr und mehr anhäuften. Die Dörfler beklagten sich über Alpträume in der Nacht, über schmerzende Glieder am Tag und das zunehmende, scheinbar verrückte Bellen der Hunde, die einen unsichtbaren Feind witterten und ankläfften und dadurch die Schafherden in Aufruhr brachten. Es verging kaum ein Tag, wo nicht jemand angeblich einen Dämon in der Nähe des Dorfes gesehen hatte oder Geister in einem Haus spukten. Der Priester der kleinen Kirche mahnte die Menschen zur Ruhe, zu Gebeten und versicherte ihnen, solange sie sich nichts zu Schulden kommen ließen, würden die Dämonen nicht sie mitnehmen. Das Dorf besaß zwar nicht viel, aber diese Kirche hatte man schon gleich beim Aufbau des Dorfes vor Jahrhunderten mit errichtet. Sie sah dementsprechend alt aus. Eines der Buntgläser musste erneuert werden und Spinnweben hingen unter dem Kirchendach hinab, die einfach nicht zu erreichen waren. 

Ehrlich gesagt, glaubte ich an all den Hokuspokus nicht. Die Menschen suchten nur Ausreden, um ihr Versagen zu rechtfertigen, ihren körperlichen Leiden einen Grund zu geben, der nicht darauf basierte, dass sie einfach alt wurden und davon die Schmerzen herrührten. Dass die Hunde am Rande des Dorfes bellten, lag oft daran, dass dort Waldtiere entlang schlichen. Aber Menschen besaßen eine ausgewachsene Phantasie, besonders diejenigen, die abseits vom Rest lebten und sich in ihrer eigenen Welt befanden. 

Manchmal wünschte ich mir tatsächlich phantastische Geschöpfe, die man im Wald antreffen konnte. Geschöpfe wie Feen und Elfen, Kobolde und Irrlichter. Sie sind fern von gut und böse, fern von Himmel und Hölle und lebten, wie sie es wollten. Sie halfen verirrten Menschen oder sorgten erst für den Irrweg. Doch es gab sie nicht, ansonsten hätte ich schon längst mal eines im Wald sehen müssen. So oft war ich dort, spazierte den Weg an der alten Kastanie entlang, ging zum Bach tiefer im Wald und konnte ab und zu Hase, Dachs oder auch den Fuchs beobachten. Eine Fee oder ein Kobold waren mir dabei nie unter die Nase gekommen. Auch kein Dämon und ich konnte wahrlich behaupten, dass ich nicht nur einmal die Zeit im Wald vergessen hatte und erst im Dunklen wieder nach Hause fand. Zum Ärger meiner Eltern natürlich. Meine Mutter presste dann immer erbost die Lippen aufeinander, die Augen voller Wut, weil ich sie mit der Hausarbeit allein gelassen habe, obwohl ich nur ein paar Pilze hatte sammeln sollen. Mein Vater hingegen war nicht so zurückhaltend mit seiner Wut. Schnell rutschte ihm die Hand aus und hatte dadurch meinen älteren Bruder einst vor Jahren aus dem Haus getrieben. Wo sich dieser nun befand, konnte ich nicht sagen. Schreiben tat er nicht, weil er es wie viele aus dem Dorf nicht richtig konnte und jemals ins Dorf zurückkehren, würde er vermutlich auch nicht mehr. Ich stellte mir in einsamen Stunden dann immer vor, wie mein Bruder auf Abenteuerreise war, gegen Riesen kämpfte, Prinzessinnen vor bösen Ungeheuern rettete und dann sich irgendwo friedlich niederließ, eine eigene Familie gründete und alles besser machte, als meine Eltern es je gekonnt hätten. Doch dann holte mich die graue Realität wieder ein und ich erinnerte mich, dass es solche Geschöpfe nicht gab und mein Bruder vermutlich einfach nur in die nächst größere Stadt gegangen war, um dort Arbeit zu finden und nun fleißig sich sein Lebensunterhalt verdiente, sich irgendwo ein Zimmer genommen hatte, um später, wenn er genug angespart hatte, sich eine Wohnung oder gar ein Haus in der Stadt zu kaufen. 

Mit ein paar Wimpernschlägen verscheuchte ich meine Vorstellungen. Nicht nur die Dorfbewohner besaßen eine ausgedehnte Phantasie, auch ich hatte sie. Doch im Gegensatz zu ihnen sah ich nicht hinter jeder Ecke böse Kreaturen, die unser Dorfleben in Angst und Schrecken jagen wollten. Geschürt wurden sie vor allem von unserem Kirchenpriester, der stets davon palaverte, was passieren würde, wenn wir sündigten und uns nicht an die Gebete und Verbote hielten. Nie war ich besonders gläubig gewesen. Weder als Kind noch als Erwachsene. Daran hatten weder meine Eltern noch der Priester je etwas ändern können. Dadurch, dass ich aber nun mal hier im Dorf lebte, hielt ich mich damit zurück irgendetwas anzuzweifeln. Ich sagte zwar nicht zu allem Ja und Amen, aber ich konnte mich auch nicht zum Glauben an Gott bekennen. Würde mich meine Mutter nicht jeden Sonntag zur Messe schleifen, würde ich gar nicht hingehen. Dem Gefasel des Priesters lauschte ich kaum und schweifte oftmals mit meinen Gedanken weit ab, stellte mir Welten voller Magie und phantastischen Wesen vor, die diese graue Welt um einiges bunter gestalten würden. Vieles, was der Priester von sich gab, kam mir unlogisch vor. Die Menschen seien Schuld daran, wenn Dämonen ihre Seelen holten, weil sie sündigten und nur die Frommen unter ihnen würden verschont bleiben und von Gott eines Tages errettet werden. Das Geschwafel mochte ich mir kaum anhören, denn so wenig es Feen und Kobolde gab, so wenig gab es Dämonen. Wenn, dann steckten sie in uns drin. 

Wenn ein Vater das eigene Kind schlug, lag es nicht an einem Dämon, der von ihm Besitz ergriffen hatte, sondern an seiner Wut über eine Tat, die sein Kind in seinen Augen falsch gemacht hatte. Wenn ein Mann eine Frau missbrauchte, dann war er von seinen eigenen Trieben gesteuert, die sicherlich dämonischer nicht sein könnten und doch war es sein eigenes Vergehen und nicht das eines Dämonen, der ihn kontrollierte. Dämon war im Prinzip nur eine Metapher für die schlechten Eigenschaften und Taten eines Menschen, doch es gab sie nicht in körperlicher Gestalt. Kein Dämon mit Hörnern auf dem Kopf, breiten Flügeln, Ziegenhufe und einem Schwanz, dessen Ende eine Spitze war, würde jemals vor uns stehen und uns zwingen die Dinge zu tun, die wir taten. Das waren Hirngespinste, die vor allem der Priester brauchte, um seine kleine Schafherde bei ihm zu halten. 

Der Priester war noch nicht lange hier im Dorf. Nachdem der Alte zuvor erst verstorben war, brauchte das Dorf einen neuen, geistlichen Anführer. Priester Theodor war ein paar Wochen später aufgetaucht und gab uns seinen Segen und verfluchte die Sündigen. Ich hielt mich ihm gegenüber zurück, um nicht sein Zorn auf mich zu laden. Gerne würde ich sagen, dass er und seine Kirchengemeinde mir egal waren, doch so einfach war das nicht. Ein Wort gegen ihn erhoben, konnte schnell zum Scheiterhaufen führen. Würde ich mit meiner Weltanschauung zu ihm kommen, versuchen ihm klar zu machen, dass es keine Dämonen waren, die von uns Besitz ergriffen und die nicht um das Dorf herum schlichen, würde ich früher oder später als Ungläubige oder gar als Hexe verschrien werden. Was die Folge dessen sein würde, konnte sich jeder denken. Da ich an meinem Leben hing, so grau es erschien, wollte ich mir keinen unnötigen Ärger einhandeln. Denn alles war besser als der Tod. 

Eben jenen stellte ich mir dunkel vor. Dunkel in einem Nichts, ohne Bewusstsein, ohne Himmel und auch ohne Hölle. Ich glaubte nicht, dass nach dem Tod etwas kam. Aber das war eine andere Geschichte, die noch nicht geschrieben wurde. 

»Selena!« Es war der Ruf meiner Mutter, die mich aus dem Starren heraus riss und mich daran erinnerte, dass ich schon vor einer halben Stunde frisches Brunnenwasser ins Haus bringen sollte. Ich schüttelte den Kopf über all meine Gedanken, über den Tod, den Priester und über Dämonen. Am Ende wusste es niemand von uns besser. Vielleicht war ich tatsächlich eine Ungläubige, die nur auf dem falschen Pfad war, weil sie einen Beweis brauchte. Einen Beweis, den man sehen oder vielleicht auch spüren konnte. Etwas Übernatürliches und nicht nur eine Phantasiegestalt. 

»Selena!«, rief noch einmal meine Mutter und ich griff nach dem Holzeimer, der mit dem Brunnenwasser gefüllt war und drehte mich zu unserem Haus.

»Ich komme!«, rief ich und kehrte ins Haus zurück. Durchnässt vom Regen, der mir, wenn ich Pech hatte, eine Erkältung bringen würde. 

 

Die regnerischen Tage ließen nicht nach. Der Herbst hielt unser Land in seinem Griff, färbte die Blätter der Bäume und Sträucher in rot, braun und gelb, ließ sie fallen und am Ende kahle Äste zurück. Der Dorfälteste war sich sicher, dass der Winter früh einkehren würde und dass er härter und kälter als jemals zuvor ausfallen würde. Wenn wir Pech haben, würden unsere Vorräte schneller aufgebraucht sein, als es uns lieb war. Die Ernten waren aufgrund des vielen Regens eher mager ausgefallen. Es würde knapp reichen, wenn wir alle ein wenig mehr haushielten. Mein Vater machte sich weniger Sorgen als meine Mutter. Er war ein guter Jäger und war sich sicher durch die Jagd zumindest für unsere Familie ausreichend sorgen zu können. Doch wenn der Winter wirklich so hart werden würde, dann wusste ein jeder von uns, dass es auch den Waldtieren nicht gut gehen würde und das sich die Jagd daher auch schwieriger gestalten würde. Als Frau durfte ich normalerweise nicht auf die Jagd. Das war Männerarbeit, aber schon als junges Mädchen war ich meinem älteren Bruder nachgegangen, der mir das Bogenschießen beibrachte. Ich wusste, wie man Reh und Hase damit erlegen konnte. Notfalls würde auch ich mich auf die Lauer legen, selbst wenn mein Vater dagegen sein würde. Er würde mich lieber verheiratet sehen und die Reden von Priester Theodor gaben dabei noch Nachdruck, denn er war der Meinung, dass eine junge Frau wie ich, längst verheiratet werden sollte. Ich sträubte mich nach wie vor. Weder besaß ich den Wunsch nach einem Ehemann noch nach Kindern. Am liebsten würde ich hinaus in die Welt gehen, um Abenteuer zu erleben, doch bisher kam ich meinem eigenen Wunsch nicht nach. Grund dafür war meine eigene Feigheit. Im Schoß der Eltern war die größte Sicherheit trotz des Schmerzes, der dort manches Mal ausgeteilt wurde. Würde ich hinaus in die Welt gehen, müsste ich mich dem Unbekannten stellen und ich wusste nicht, ob ich dafür schon bereit war. 

»Der alte Fred … «, begann mein Vater während des Abendbrots meiner Mutter zu erzählen. Ja, der alte Fred – über ihn wurde viel gesprochen. Fred gab immer wieder Grund dafür, da er ein Säufer war, der hier und da an jedem und allem aneckte. Er hatte sich auch heute wieder zu viel Bier gegönnt – zu Zeiten, wo der eifrige Mann sonst arbeiten sollte – und war dann mit der Frau des Schankwirts aneinander geraten. Marta war eine gute Frau, etwas korpulenter, aber selbstbewusst und bot den Männern im Dorf oftmals Parole. Sie wusste, wie man die Schar im Zaun halten konnte, wenn sie am Abend und in der Nacht zu viel tranken. Offenbar war dieses Mal Fred der Marta zu nahe gekommen, weswegen der Schankwirt ihn hochkant heraus geworfen hatte. Nicht nur das … 

»Er drohte ihm beim nächsten Mal seinen Schwanz abzuschneiden. Geschieht ihm ganz recht, dem Säufer, ha«, euphorisierte mein Vater. Er war kein Freund von Fred. Das war niemand. Deswegen würde sich auch niemand darüber wundern, wenn Fred eines Tages nicht mehr aus seinem Saufgelage aufwachen würde. Es war traurig, aber selbst Priester Theodor hatte diesen Mann für hoffnungslos erklärt. 

»Red nicht so«, ermahnte meine Mutter leise meinen Vater. Sie mochte nicht, wenn er vulgär oder herablassend wetterte. Natürlich nicht, sie war eine strenge Gläubige und fürchtete sich vor der Strafe Gottes, die uns heimsuchen könnte, wenn einer von uns sündigen sollte. Mein Vater glaubte zwar auch an Gott, war allerdings weniger ängstlich. Er war ein robuster Mann, der jeden Tag hart arbeitete, sich aber auch die Schönheit des Lebens gönnte. Darunter gehörte Bier oder Met am Abend mit seinen Freunden im Gasthaus oder eben das Aufregen über Dörfler, die seiner Meinung nach etwas falsch gemacht hatten. Hier im Dorf wurden Nachrichten sowieso schnell ausgetauscht. Jeder kannte jeden, daran konnte man kaum etwas ändern. 

»Die gute Theresa hat uns morgen zum Essen eingeladen«, fuhr meine Mutter fort, um das Gespräch auf schönere Themen zu lenken. Ich wusste gleich, was das zu bedeuten hatte. Theresa, eine der ältesten Freundinnen meiner Mutter, hatte einen Sohn. Er war nur ein Jahr älter als ich und bisher unverheiratet. Ich stieß meine Gabel in das Stück Fleisch vor mir, schnitt etwas davon ab und schob es lustlos in den Mund. Ich brauchte gar keine Widerworte von mir zu geben, sie waren vergebens. Meinem Vater würde es gefallen, wenn ich endlich unter die Haube kam und meiner Mutter würde es nur recht sein, wenn ich mit Ludwig zusammen kam, der Sohn von Theresa. Dummerweise war er weder attraktiv, noch besonders intelligent. Wenn er wenigstens liebenswürdig wäre, doch selbst daran mangelte es ihm. Kein Wunder, dass er noch keine Frau hatte. Er besaß keine besonders ansehnlichen Eigenschaften, weder körperlich noch von seinem Charakter. Einst hatte ich dabei heimlich beobachtet, wie er grundlos einen Hund gequält hatte. Das arme Geschöpf hatte gewinselt vor Schmerz, doch Ludwig hatte nicht nachgelassen. Erst als seine Mutter nach ihm rief, weil er ihr helfen sollte, war er gegangen und entkam nur knapp meinem eigenen Angriff. Tatsächlich hatte ich schon nach einem passenden Knüppel gesucht gehabt, um ihm eins überzubraten. Den Hund hatte ich danach mitgenommen und wieder gesund gepflegt. Heimlich, weil meine Mutter für die wild laufenden Hunde nichts übrig hatte. 

»Zieh morgen dein hübsches Kleid an, Selena«, wies meine Mutter mich an. Ich rollte die Augen, was mein Vater sah, der erbost darüber schnaubte. Er sparte sich dieses Mal eine Verwarnung mir gegenüber. Das war nicht immer so. Schnell genug war er damit Ohrfeigen auszuteilen. 

 

Am nächsten Morgen war es dann so weit. Selbst mein Vater ließ die Arbeit ruhen, um der Einladung Folge zu leisten, damit seine Tochter – also ich – endlich einen Ehemann fand. Doch der Tag sollte andere Ereignisse mit sich bringen. Kaum verließen wir unser Haus, da hörten wir einen Schrei. Ich zog meinen Mantel enger um meinen Leib, denn ich trug auf Wunsch meiner Mutter das helle Kleid mit der Spitze am Saum. Es war mehr ein Sommerkleid und daher weniger für kalte Tage wie heute geeignet. Doch ich musste es tragen, weil es auch so ziemlich das einzige, schöne Kleid war, was ich für besondere Anlässe anziehen konnte. Meine Familie war nicht reich und viele besondere Feste wurden nicht gefeiert. Bei den meisten Veranstaltungen reichten auch die anderen, schlichteren Kleider, die ich sonst besaß. Heute Morgen hatte meine Mutter extra auch mein helles Haar aufwendig geflochten und hochgesteckt. Meiner Meinung nach viel zu viel Aufwand für den schrecklichen Ludwig. Doch wir hörten den Schrei. Es war eine weibliche Stimme, die da sich die Seele aus dem Leib brüllte und meine Eltern wie auch mich in Alarmbereitschaft versetzten. Mein Vater rannte hektisch los, meine Mutter folgte ihm, genauso wie ich. Wir erreichten sehr schnell den Dorfplatz, wo vermutlich das gesamte Dorf schon anwesend war. Die alte Eiche war dabei der Mittelpunkt. Seit Jahrhunderten stand sie da und hatte alles miterlebt. Bestimmt konnte sie zahlreiche Geschichten erzählen, wenn sie denn sprechen könnte. 

Die Dörfler hatten einen Halbkreis um die alte Eiche gebildet und starrten auf das, was an einem der unteren, dickeren Äste hing. Mein Vater drängelte sich nach vorn und ich folgte ihm. Was ich sah, war schrecklich, aber ich konnte nicht sagen, was ich fühlte. Es war eine stumpfe Leere, die weder trauerte noch erleichtert war. Eine schlichte Neutralität, als würde mich das alles nichts angehen. Dabei war das hier doch mein Dorf, mein Zuhause und der alte Fred – mögen die Wenigen von ihm je gut gesprochen haben – gehörte ebenfalls dazu. Nun hing er aufgehängt am Eichenast mit weit aufgerissenen Augen. Seine Haut war fahl und eingefallen, was sicherlich nicht nur am Tod lag, sondern auch an seiner Sauferei. Seine Zunge hing schlaff heraus und unter ihm auf dem Boden lag noch sein alter Bierkrug, den er immer mit sich trug. Der Rest des Gesöffs war im Erdreich versickert. 

War es Selbstmord? Eine Frage, die sich wohl jeder stellte und viele würden das auch fest annehmen. Denn welches Leben hatte Fred schon vorzuweisen? Keiner würde über ihn trauern und dennoch war es schrecklich, dass so etwas bei uns im Dorf geschah. 

»Werte Gemeinde … «, hörte ich die Stimme von Priester Theodor. Natürlich war er anwesend und begann seine Predigt, um die Menschen zu beruhigen, aber gleichzeitig auch zu warnen, was passieren konnte, wenn man sich der Sucht des Alkohols hingab. Man war nicht mehr beim klaren Verstand und wurde von Dämonen dazu getrieben das eigene Leben auszuhauchen. Da war es wieder … Dämonen. Während der Priester noch weiter seine Rede schwang, sah ich mich ein wenig um. 

Die alte Marta war da, ebenso ihr Ehemann. So oft hatten sie Fred Bier ausgeschenkt. Ob sie es bereuten? Solange er bezahlte und nicht allzu auffällig war, hatten sie ohne Weiteres sein Geld angenommen. Egal wie viel er trank, die Bezahlung stimmte meistens. Und wenn er nicht mehr zahlen konnte, wurde er rausgeworfen. Nie wieder würde man das Gezeter von Marta über Fred hören, die ihn hochkant aus dem Wirtshaus hinaus jagte. Jetzt war es endgültig vorbei. Während ich über die Dorfgemeinde hinweg sah und im Kopf durchging, wer alles anwesend war, fiel mir eine Person auf, die fehlte. Wenn man von den wenigen Jägern und Holzfällern absah, die im Wald unterwegs waren, war so gut wie jeder hier versammelt, außer Ludwig. Ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Nicht, dass ich Sehnsucht nach ihm hatte, aber mir kam es ein wenig seltsam vor. Ludwigs Mutter Theresa war anwesend und sah voller Furcht zum toten Fred hinauf. Der Anblick erschreckte sie, aber sie konnte einfach nicht wegsehen. 

Ich löste mich aus der Masse und entfernte mich ein paar Schritte weg vom Unglücksort. Niemand achtete auf mich, weswegen mich auch niemand aufhielt. Als ich meinen Blick schweifen ließ, konnte ich einen Schatten weiter hinten beim Wirtshaus erkennen. Irgendwer huschte davon, als ich in jene Richtung sah. Ich wartete nicht, setzte mich in Bewegung und ging zum Wirtshaus, daran vorbei und zum Hof dahinter. Zuerst konnte ich niemanden sehen, doch als ich hinter dem angehäuften Holzscheiten blickte, erkannte ich Ludwig. Er hatte eine leicht geduckte Haltung und murmelte etwas vor sich hin. Es fiel mir schwer ihn richtig zu verstehen, denn er nuschelte. Konzentriert versuchte ich es dennoch, um aus seinem Gemurmel etwas heraus zu hören.

»Geschieht ihm recht … alter Bastard … endlich tot … « Ich war darüber beunruhigt und trat einen Schritt näher heran.

»Was redest du da, Ludwig?«, fragte ich ihn. Erst jetzt schien er mich zu bemerken. Er zuckte auf und sah erschrocken drein, dabei hatte ich angenommen, dass er mich längst gesehen haben musste. Er wirkte so … verwirrt, mehr als sonst. Besonders helle war er noch nie gewesen, aber jetzt konnte ich Wahnsinn aus seinen Augen aufblitzen sehen.

»Der alte Fred! Er hat’s verdient! So wie die anderen, ja, ja, er hat’s verdient!«, murmelte er immer wieder. Sein Verstand schien nicht klar zu sein. Anders konnte ich mir das nicht erklären.

»Rede nicht so, keiner hat den Tod verdient!« Der Ansicht war ich schon immer gewesen. Selbst Ludwig hatte den Tod nicht verdient, auch wenn er mir Angst einjagte. Das Leben war zu wertvoll und niemand sollte über Leben und Tod entscheiden. 

»Doch! Hat er!«, schrie Ludwig auf, so dass ich erschrocken ein paar Schritte zurück wich. Seine Augen waren weit aufgerissen und er hob die Hand zur Faust. 

»Gesoffen hat er, schlecht war er! Tot ist er … !« Die letzten Worte betonte Ludwig so seltsam, fast schon amüsiert darüber, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ich war mir sicher, dass Ludwig völlig durchgedreht war. Sein irrer Blick fixierte mich. Zuvor hatte er sich immer wieder in verschiedenen Richtungen umgesehen, als würde er etwas suchen oder befürchten, dass irgendwer auftauchte. Richtig verstehen konnte ich es nicht, doch langsam kam eine Vermutung in mir hoch. Ich ging noch ein paar Schritte weiter zurück. So langsam wie ich konnte, denn ich fürchtete, dass jede hektische Bewegung Ludwig aufschrecken könnte und dann … Ja, was dann geschah, konnte ich nicht einmal sagen. Ich hatte ein ungutes Gefühl dabei.

»Ludwig«, sprach ich ihn an und war nicht sicher, ob er mich verstand. Er murmelte weiter wirres Zeug vor sich hin, was einfach keinen Sinn für mich ergab.

»Hast du Fred … aufgehängt?« Mir kam der Gedanke einfach so. Es wäre nicht unwahrscheinlich, wenn Fred tatsächlich Selbstmord begangen hätte, aber diese Theorie zweifelte ich an. Wenn ich mir Ludwig so ansah, dann kam in mir ein viel schrecklicher Gedanke auf und das unterschwellige irre Lachen von Ludwig ließ mehr denn je meine Nackenhaare zu Berge stehen.

» … hat es verdient … «, hörte ich von ihm. Seine giftgrünen Augen starrten mich immer noch an. Ich war mir sicher.

»Du hast wirklich Fred umgebracht«, stellte ich fest und spürte eine Wand in meinem Rücken. Ich zuckte leicht zusammen, weil ich mich in die Enge getrieben fühlte. Vor allem weil Ludwig auch auf mich zu kam. Sein Gang war immer noch geduckt, aber es wirkte nun viel mehr wie von einem Raubtier. Als hätte er sich auf die Lauer gelegt.

»Er hat es verdient!«, wiederholte er. Ich schluckte und schüttelte den Kopf, widersprach ihm auf diese Weise.

»Er hat es verdient, du Schlampe!«, brüllte er, dass ich mich erneut erschrak. Ich schrie auf, als er auf mich zugesprungen kam, seine Hände nach vorn ausgestreckt, um sie um meinen dünnen Hals zu legen. Doch soweit kam es nicht. Ludwig bekam einen Schlag von hinten auf seinen Kopf und fiel wie ein nasser Sack gen Boden. Dort blieb er liegen. Ich glaubte nicht, dass er tot war, aber bewusstlos war er auf alle Fälle. Mein Herz schlug heftig in meiner Brust und ich sah von Ludwigs Körper auf und zu der Gestalt, die mich gerettet hatte. Sie war in einem dunkelbraunen Mantel völlig eingehüllt. Die Kapuze war über den Kopf gezogen, so dass ich kaum das Gesicht erkennen konnte. Nur schwach erahnte ich, was sich darunter befand und fürchtete mich erneut. Ein entstelltes Gesicht? Nein, das konnte kaum sein … 

»Selena!« Als ich die Stimme meines Vaters hörte, zuckte mein Kopf zur Seite. Er sah mich besorgt an und dann auf Ludwig hinab. Langsam kam er näher und hockte sich neben ihn, um seinen Puls zu prüfen. Ja, er lebte noch.

»Vater, er … «, begann ich, doch er unterbrach mich rasch.

»Ich weiß, was passiert ist. Ich hab’s gehört«, meinte er nur und sah zu mir hinauf.

»Geh zu deiner Mutter«, wies er mich mit einer Kopfbewegung zum Dorfplatz an. Einen letzten Blick warf ich auf ihn, auf Ludwig und dann zu dem Kapuzenmann, ehe ich mich auf und davon machte, um die Szene zu verlassen. 

 

Zwei Wochen war es her, dass Fred aufgehängt am Eichenast vorgefunden wurde. Mein Vater hatte Ludwig zum Dorfältesten und Priester Theodor gebracht. Diese hatten entschieden Ludwig einzusperren. Ein richtiges Gefängnis besaß unser Dorf nicht, aber im Kellergewölbe der Kirche gab es Räume, die versperrt werden konnten. Eigentlich kam dort keiner hin und Priester Theodor wollte auch nicht, dass irgendjemand im Kellergewölbe sein Unwesen trieb. Was aus Ludwig wurde, wusste ich nicht. Mein Vater äußerte sich nicht dazu, auch nicht, wenn ich nachfragte. Seitdem Fred nicht mehr da war, hatte ich das Gefühl, dass die Stimmung im Dorf trübsinniger war. Dabei hatte kaum einer ihn gemocht. Womöglich lag es mehr an der Tatsache, dass bei uns ein Mord geschehen war. Ein Verbrechen, womit niemand jemals gerechnet hatte. 

Es war noch sehr früh, als meine Mutter mich los schickte, um eine Salbe vom Kräuterweib zu holen. Sie wurde auch manchmal hinter der Hand von den anderen als Hexe beschimpft, dabei fand ich ihr Wissen über Kräuter, Heilpflanzen und Ähnlichem sehr hilfreich. Meine Mutter beklagte sich in letzter Zeit über stärkere Kopfschmerzen, weswegen ich zum Kräuterweib gehen sollte, um Medizin gegen die Schmerzen zu holen. Die Paste, die Cassandra anrührte, linderte oft die Beschwerden und wenn jemand im Dorf krank wurde, holte man Cassandra, damit sie die Krankheit bekämpfte. Zumindest war das früher so. Nachdem Priester Theodor ins Dorf gekommen war, hatte Cassandra nicht mehr viel zu tun. Der Priester vertraute dem Hexenweib nicht und unterstellte ihr Teufelshandwerk. Bislang hatte er aber noch nichts gegen sie unternommen, denn wenn jemand wirklich einmal krank wurde, dann war es Cassandra zu verdanken, dass der Erkrankte wieder gesundete. Ich glaubte, solange niemand wegen ihr vergiftet wurde, würde Priester Theodor sie im Dorf dulden, auch wenn er sein Missfallen ihr gegenüber immer sehr anschaulich verdeutlichte. 

Um zu Cassandras Hütte zu gelangen, musste ich das Dorf durchqueren, denn sie lebte am Rande und ein Stück weiter abseits von uns allen. Hinter ihrem Haus hatte sie einen Kräutergarten angelegt und viele Heilpflanzen sammelte sie im Wald zusammen. Ich wusste das, weil ich mich mit ihr mehr als einmal unterhalten hatte. Doch bevor ich zu ihr gelangte, kam ich über den Dorfplatz. Die alte Eiche stand immer noch, aber bis ich das Bild vom hängenden Fred am Ast aus dem Kopf bekam, würde es wohl noch eine Weile dauern. Man hatte ihn auf dem kleinen Friedhof begraben, der bei der Kirche lag. 

Ich ging näher zur Eiche heran, blieb allerdings stehen, als ich einen Schatten in den Ästen erkennen konnte. Da die Sonne noch nicht richtig aufgegangen war, konnte ich nicht alles genau erkennen, jedoch wusste ich, dass es niemand der Dörfler war, der da oben saß. Keiner würde von uns in die Baumkrone der Eiche klettern, auch nicht die Kinder. Es war verboten. Viele von uns sahen die Eiche als etwas Heiliges an. Dass sie durch Freds Tod besudelt worden war, machte es nicht einfacher. 

Leicht runzelte ich die Stirn und versuchte zu erkennen, wer es sich auf dem dicken Ast, an dem Fred gehangen hatte, gemütlich gemacht hatte. Es war nicht schwer zu erraten, denn niemand sonst außer dem Fremden besaß diesen dunkelbraunen Mantel. Der Fremde, der vor fast drei Wochen aufgetaucht war. Ich wusste nicht, was er hier wollte oder wer er überhaupt war. Auch heute konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Zum einen lag es am wenigen Licht, zum anderen daran, dass er seine Kapuze über dem Kopf und tief ins Gesicht gezogen hatte. Mir war der Fremde immer mal wieder aufgefallen, aber ein Wort hatte ich nie mit ihm gewechselt. Wenn ich ihn sah, dann meistens aus der Ferne. Er tauchte auf und verschwand immer so schnell, dass es kaum möglich war, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Ob ich das überhaupt wollte? Ich blickte zu ihm hinauf, mehrere Minuten lang, bis ich mich losriss und eiligen Schrittes weiterging. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas Unheimliches hatte er an sich. Vermutlich, weil er sich so verhüllte und man so nicht wusste mit wem man es zu tun hatte. Der Drang über die Schulter zurückzuschauen war so groß, dass ich es einfach tun musste und dabei feststellte, dass der Kapuzenmann mir nachsah. Ich konnte zwar seine Augen nicht erkennen, aber sein Kopf drehte sich in meine Richtung, was dafür sprach, dass er mich beobachtete. Ich fühlte mich zudem auch sehr unwohl so angestarrt zu werden, also ging ich schneller, bis ich das Dorf durchquert hatte und Cassandra einen morgendlichen Besuch abstatten konnte. Dass meine Mutter mich so früh los geschickt hatte, lag nur daran, dass sie nicht wollte, dass Priester Theodor oder jemand anderes mitbekam, wie ich von dem Kräuterweib die Medizin holte. Als wäre es etwas Verbotenes. Lächerlich, dabei half es doch und war nichts Schlimmes! Doch der Glaube war im Dorf fest verankert und die Angst vor schrecklichen, teuflischen Konsequenzen groß. 

  

»Vater«, sprach ich ihn während des Abendessens an. Tagein, Tagaus verging, ohne dass etwas passierte. Nicht, dass ich etwas erwarten würde. Aber die Stimmung im Dorf wurde nicht besser. Hin und wieder ertappte ich mich selbst, wie ich danach lauschte, dass Marta einen Betrunkenen aus dem Gasthaus hinaus jagte und dabei schrie: »Fred, du alter Säufer, dass du mir nicht noch einmal unter die Augen kommst!« Eine Warnung, die nie eingehalten wurde und jedes Mal, wenn Fred erneut zu ihr gekommen war, hatte sie ihm Bier ausgeschenkt, bis es eskaliert war. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum Marta oder Fred nichts daran geändert haben. Marta hätte es vielleicht geschafft, Fred zu überzeugen das Trinken sein zu lassen. Ob sie es je probiert hatte?

Mein Vater brummte und sah mich fragend an, denn ich hatte ihn angesprochen. Bevor ich mich zu sehr in Erinnerungen und Gedanken verstrickte, erhob ich wieder meine Stimme.

»Weißt du, wer dieser Fremde ist, der seit einigen Wochen in unserem Dorf verweilt?«, wollte ich von ihm wissen. Dieser Kapuzenmann beschäftigte mich, seitdem er mich vor Ludwig gerettet hatte. Ich konnte nicht sagen, ob ich in der Lage gewesen wäre, Ludwigs Angriff abzuwehren, es spielte auch keine Rolle mehr. Ludwig versauerte irgendwo im Kellergewölbe der Kirche. Wie rechtens das war, sei mal dahin gestellt. 

»Welcher Fremde?«, fragte mein Vater und sah mich skeptisch an. Wusste er wirklich nicht, wen ich meinte? Schließlich konnte sich jeder gleich denken von wem man redete, wenn es nicht einer der Dorfbewohner war.

»Der Fremde mit dem dunkelbraunen Mantel«, versuchte ich meinem Vater auf die Sprünge zu helfen. Noch immer sah er mich skeptisch an, hob sogar eine buschige Augenbraue.

»Es gibt keinen Fremden im Dorf. Das wüsste ich ja wohl!«, beharrte er. Ich öffnete schon meine Lippen, um etwas darauf zu erwidern, aber weil auch meine Mutter mich ansah, als würde ich verrücktes Zeug von mir geben, hielt ich den Mund. Wie konnte es sein, dass mein Vater nichts von dem Fremden wusste? Er hatte ihn doch gesehen! An jenem Tag, als Ludwig mich angreifen wollte und von dem Fremden bewusstlos geschlagen wurde. Mein Vater hatte direkt neben ihm gestanden!  

»Iss auf, Selena«, forderte meine Mutter mich auf und deutete auf meine Suppenschüssel vor mir auf dem Tisch. Nur zögerlich aß ich weiter und fragte mich, was hier vor sich ging. Vielleicht wollten meine Eltern einfach nichts über den Fremden sagen. War er gefährlich? Musste ich mich von ihm fern halten? Unheimlich wirkte er auf mich. Daran ließ sich nichts verschönern. Trotzdem wollte ich antworten, wollte wissen, wer er war und was er im Dorf wollte. Mein Vater musste etwas wissen, denn er war beim Dorfältesten wie auch bei Priester Theodor angesehen. Wenn es wichtige Entscheidungen zu klären gab, rief man auch meinen Vater als Beratung dazu. Er konnte zwar grob sein, aber trotzdem war auf ihn Verlass.

Nach dem Essen war meine Mutter in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Eigentlich müsste ich ihr helfen, doch ich wollte die Gelegenheit nutzen mit meinem Vater allein zu sprechen. Ich wusste, dass er manche Dinge vor meiner Mutter nicht immer aussprach, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Vielleicht lag da der Grund, weshalb er beim Essen nichts über den Fremden erzählt hatte.

»Vater«, versuchte ich es also noch einmal. Er war dabei seine Jägerausrüstung auf Vordermann zu bringen. Ich ignorierte sein geschäftiges Treiben. 

»Wegen dem Fremden«, begann ich von vorne und er sah auf und wirkte wütend. 

»Du hast ihn doch auch gesehen, als Ludwig … «

»Was redest du?«, unterbrach er mich harsch. Ich fiel ihm selbst ins Wort, um es besser zu erklären. 

»Als Ludwig mich angegriffen hatte, da hat er … « Ausreden ließ er mich dennoch nicht.

»Dieser Idiot. Ist über die eigenen Füße gestolpert«, schnaubte er auf. Er mochte das Thema nicht mögen, aber Ludwig mochte er noch weniger. Spätestens nach dem Mord an Fred und der Sache mit mir, war mein Vater nicht begeistert über Ludwig. Der irre Sohn von Theresa hatte jegliche Anerkennung verloren. Theresa selbst hatte sich seitdem in ihrem Haus verschlossen und war nur noch selten zu sehen. Sie ertrug es nicht, dass ihr Sohn getötet hatte und wahnsinnig geworden war, was natürlich am Ende auch auf sie zurückfiel. Die Dorfbewohner redeten nicht mehr besonders gut über sie. Selbst meine Mutter hielt sich von Theresa fern und das, wo sie doch seit Jahren beste Freundinnen gewesen waren.

»Gestolpert?«, nahm ich die Worte meines Vaters auf und war verwirrt.

»Er ist nicht gestolpert. Der Fremde hat … !« Wie konnte mein Vater nur die Tatsachen verdrehen? Doch noch ehe ich ausgesprochen hatte, kam seine Hand so schnell angeflogen, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Die Ohrfeige kam mit viel Schwung und einer solchen Härte, dass ich glaubte, mein Kiefer brach. Hinzu kam, dass ich mein Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf gegen die Kante des kleinen Schränkchens an der Seite fiel. Benommen blieb ich dort unten am Boden hocken und versuchte mich wieder zu orientieren. Der Schmerz schoss durch meinen Kopf wie heiße Lava und für einen Moment war mir schwarz vor Augen.

»Bist du jetzt auch so irre wie Ludwig, ja? Es gibt keinen Fremden im Dorf, es gab niemanden! Ludwig ist durch seine eigene Dummheit über seine Füße gestolpert, was dir das Leben gerettet hat. Sei lieber dankbar oder willst du wie er enden?«, mahnte mich brüllend mein Vater, der schnell die Geduld verlor, so wie jetzt. Er wollte es nicht wahrhaben oder er hatte den Fremden tatsächlich nicht gesehen. Aber machte Letzteres überhaupt Sinn? Ich hatte ihn gesehen, wie also war es meinem Vater dann nicht möglich? Vielleicht versuchte er es mir nur einzureden, weil es etwas gab, was ich nicht wissen sollte. Vielleicht wurde ich aber tatsächlich verrückt wie Ludwig und verlor meinen Verstand.

Meine Mutter kam angelockt durch den Lärm aus der Küche ins Zimmer und sah weniger erfreut drein. Nie sagte sie etwas gegen meinen Vater und hatte ihn auch nie davon abgehalten mich zu schlagen. Bestimmt hatte sie selbst Angst davor seiner Wut ausgesetzt zu sein. Also bekam ich immer alles ab.

»Geh auf dein Zimmer, Selena«, sagte sie mit ruhiger Stimme zu mir und sah meinen Vater an. Sie kritisierte ihn nicht und sagte auch sonst nichts weiter. Als ich dabei war mich mühsam wieder auf die Füße zu rappeln – Hilfe kam weder von meiner Mutter noch von meinem Vater – ging meine Mutter bereits zurück in die Küche. Mein Vater schnaubte noch einmal in meine Richtung und widmete sich wieder seiner Jagdausrüstung. Ich war so wütend über das Verhalten meiner Eltern und so enttäuscht und verletzt, dass ich mich abwandte und stampfend das Zimmer verließ, die Tür hinter mich zuknallte und die kleine schmale Treppe zu meinem Zimmer hinauf lief. Mein Kopf fühlte sich immer noch heiß und schmerzhaft an. Meine rechte Schläfe pulsierte und ich war mir sicher, dass man morgen die Auswirkungen sehen konnte. Gedankenverloren tastete ich meinen Kopf ab, denn ich war nicht sicher, ob ich durch den Zusammenprall mit der Schrankkante eine Platzwunde erlitten hatte. Doch abgesehen von oberflächlichen Kratzern konnte ich nichts weiter finden. Ein bisschen Blut, was aber schon bald getrocknet war. Ich tauchte einen frischen Lappen in die Schüssel mit dem frischen Wasser, die auf meiner Kommode stand und tupfte über die Wunde, um sie zu reinigen. Es tat weh und würde mir die nächsten Tage Kopfschmerzen bereiten. Vielleicht sollte ich zu Cassandra gehen. Bisher hatte ich das Gefühl gehabt, dass sie die Einzige im Dorf war, die verstand, wie es mir ging. 

Ich stand wieder auf und ging zum Fenster, um hinaus zu sehen. Draußen wurde es langsam dunkel, denn die Sonne ging unter. Das Bild war immer das gleiche, was sich mir bot, doch heute stand jemand nicht unweit von unserem Haus da. Ich runzelte die Stirn und glaubte nicht, dass ich tatsächlich den Fremden erkennen konnte, der diesen seltsamen, abgenutzten Mantel trug. Das konnte einfach nicht sein. Doch er stand wirklich da. Und er sah direkt in meine Richtung. Nicht, dass ich sein Gesicht erkennen konnte, aber ich wusste es einfach. Er sah zu meinem Fenster, sah mich und schien auf mich zu warten. Ich wandte mich ab und ging in meinem Zimmer auf und ab. Sollte ich meinem Vater sagen, dass der Fremde da war? Aber am Ende wurde er nur wütend. Was, wenn er ihn nicht sehen konnte?

»Selena, deine Phantasie geht mit dir durch!« Glaubte ich schon jetzt an Geister? So oft ich mir Fabelwesen ausgedacht und erträumt habe, so gab es auch schreckliche Wesen in der Welt der Phantasie. Wollte ich wirklich daran glauben? Oder wollte ich nicht lieber, dass das alles nur Traumgestalten waren, die es nicht gab? Ich war verwirrt über mich selbst und verließ mein Zimmer. Ich dachte nicht groß darüber nach, was ich tat und schlich die Treppe hinunter, denn ich wollte nicht, dass meine Eltern etwas davon mitbekamen. Da meine Mutter wieder bei meinem Vater war und sie beide vor dem prasselnden Kaminfeuer saßen, konnte ich den Hinterausgang der Küche nutzen. Der Vordereingang würde zu auffällig sein. Sie würden mich bemerken, genau das, was ich verhindern wollte. Aus welchen Gründen auch immer. 

Als ich draußen ankam, atmete ich erleichtert auf, schlich allerdings weiter, um keinen Laut von mir zu geben. Ich ging um das Haus herum und suchte mit meinen Augen die Umgebung ab, doch den Fremden sah ich nicht mehr. War er etwa verschwunden? Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Was tat ich denn hier? Ergab das Sinn? Natürlich nicht!

Ich sah hinüber zum Wald, wo der Wind durch die oberen Baumkronen raschelte und noch mehr Blätter mitnahm. Braun, rot und gelb leuchteten die meisten, dazwischen fanden sich ein paar Nadelbäume, die ihre Nadeln nicht abwarfen. Man konnte über dieses Land sagen, was man wollte. Städter würden es als langweilig empfinden hier zu leben, aber es war wunderschön. Der Natur so nahe sein zu können, war immer das gewesen, was meine Liebe zu meiner Heimat aufrecht erhalten hatte. Nicht die Menschen, nicht das Dorfleben, sondern die Schönheit der Natur. 

Ich ging einfach los, magisch angelockt vom Wald, ohne darüber nachzudenken. Ein Spaziergang an der frischen Luft würde womöglich meinen Geist wieder wachrütteln. Dabei hatte ich mir nicht einmal meinen Mantel übergezogen und trug nur das Kleid, was mich eigentlich nicht ausreichend warm halten konnte. Trotzdem fröstelte ich nicht, als ich den Dorfrand erreichte und in den Wald hinein tauchte. Ohne zurück zu sehen folgte ich einem unsichtbaren Pfad über vereinzelte Steine, über fallen gelassenes Laub und über weiches Moos. Umgestürzte Bäume musste ich ebenso überwinden wie teilweise die dichten Büsche, die einem nicht immer durchlassen wollten. Wohin ich ging, wusste ich nicht, doch Angst empfand ich keine. Dabei wurde es immer dunkler und jeder im Dorf war der Ansicht, dass man nachts nicht mehr im Wald umher laufen sollte. Zu gefährlich war es, weil Wölfe und Bären ihr Unwesen trieben und die besonders Gläubigen fürchteten sich natürlich vor den Schrecken der Nacht. Vor Dämonen und Ungeheuer, die verirrten Seelen auflauerten und sie in ihre Unterwelt hinein zogen. Trotz all der Geschichten fürchtete ich mich nicht. Würde mich überhaupt jemand vermissen, wenn ich im Wald verschwand? Ich bezweifelte es. Manchmal kam es mir vor, als wäre ich nur eine Last meiner Eltern. Wie gerne sie mich doch los hätten … 

 

Stunde um Stunde verging, doch mir kam es nur wie Minuten vor. Die Sonne war längst verschwunden und der Mond trat an ihrer Stelle und erleuchtete nur schwach die Nacht. Wolken hatten sich vor ihm geschoben, weswegen er nicht alles erleuchten konnte. Denn heute war Vollmond. Ich kannte die Gruselgeschichten von Menschen, die sich zu Vollmond in schreckliche Biester verwandeln sollten, doch das einzige Heulen, was ich hören konnte, waren die Wölfe, die im Wald unterwegs waren. Es beunruhigte mich nicht, denn ich wusste, dass die Pelzträger sich meistens von Menschen fern hielten. Sie kamen zwar ans Dorf heran, um Vieh aus den Herden zu reißen, weil es leichte Beute war, aber einen Menschen hatten sie noch nie angefallen. Auch wenn ausgeschmückte Geschichten etwas anderes behaupteten. Noch nie war ein Toter gefunden worden, der von einem Wolf tatsächlich getötet worden war. Böse Zungen behaupteten, dass das nur daran lag, weil die Wölfe alles aufgefressen hatten, doch das glaubte ich nicht. Wollte es nicht glauben. Das Heulen eines solchen Wolfes ließ mich inne halten. Er war zu weit weg, als dass ich mir Sorgen darum machen musste, doch als ich weitergehen wollte, stockte mir der Atem und ich blieb wie angewurzelt stehen. Vor mir tat sich eine kleine Lichtung auf. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, was wohl daran lag, dass ich in diesem Teil des Waldes noch nicht gewesen war. Mir kam die Gegend jedenfalls nicht bekannt vor. Oder lag das an der Dunkelheit? Sei‘s drum, meine Augen lagen auf dem Geschöpf, welches auf der Lichtung stand. Die Wolken zogen weiter und ließen das Mondlicht intensiver auf die Lichtung fallen. Ich ging wenige Schritte weiter, um genauer hinsehen zu können. Meine Lippen öffneten sich vor Erstaunen und gleichzeitig begann mein Körper zu zittern. Vor Furcht. 

Ein tiefes Schnauben löste sich aus den Nüstern des Pferde ähnlichen Wesens. Es besaß schwarz-weißes Fell, darunter sämtliche graue Nuancen, die zwischen schwarz und weiß lagen. Ich weiß nicht wieso ich darauf kam, doch ich bildete mir ein, dass irgendwann in längst vergessener Zeit dieses Wesen einmal ganz weiß gewesen sein musste. Nun war das Fell mit grauen und schwarzen Flecken übersät. Die Beine waren fast gänzlich schwarz und würden die Hufe nicht hell sein, hätte ich sie gar nicht erkennen können. Doch beeindruckender waren die Federschwingen auf dem Rücken und das lange, spitze Horn auf der Stirn des Pferdes. War es ein Einhorn? Ein Pegasus? Eine Mischung von beidem? Ich wusste nicht, wie man es nennen sollte und obgleich es im ersten Moment unsagbar phantastisch aussah, jagte es mir beim zweiten Blick einen kalten Schauer über den Rücken. Angst griff nach meinem Herzen, denn je länger ich hinsah, desto mehr Details wurden sichtbar. Die Flügel, die einst den Leib über die Wolken getragen haben mussten, waren nur noch ein kläglicher Anblick. Zwischen den sonst weißen Federn waren Federn so schwarz wie die Nacht. Sie störten das Gesamtbild und ließen nichts Gutes erahnen. Das Schlimme daran war aber, dass die Flügel nicht ausgefüllt waren. Ich konnte die leeren Stellen erkennen, wo einst die Federn dicht gedrängt gewachsen sein mussten. Nun fehlten da Etliche und ich glaubte nicht, dass dieses Wesen überhaupt noch in der Lage war zu fliegen. Hinzu kam, dass ich glaubte Blut zu sehen, als hätte man mit Gewalt ihm einige Federn ausgerissen. Eine solche Feder lag auch weiter weg auf der Lichtung. Sie hatte jeglichen Glanz verloren. 

Glanz fehlte auch im Gesicht des Einhorns. Wo ich erst glaubte, dass der Körper kräftig war und die Muskeln unter dem Fell hervor kamen, wenn es sich über die Lichtung bewegte, so täuschte ich mich. Als es einen Bogen ging und die andere Seite des Körpers präsentierte, konnte ich Rippen unter dem Fell erkennen, den ausgemergelten Körper und im Gesicht … 

Mir blieb die Luft für wenige Sekunden weg. Mein Herz setzte einen Augenblick aus, ehe es viel zu schnell weiter schlug. Das Gesicht des Einhorns war entstellt. Wo Fell sein sollte, konnte ich den Schädel erkennen, der im Mondlicht verhöhnend aufblitzte. Die gesamte linke Gesichtshälfte sah wie der Tod selbst aus. Die linke Augenhöhle leuchtete rot auf, dort wo eigentlich das Auge sein sollte. Jeder, der es sehen würde, würde dieses Geschöpf als Dämon oder Alptraum bezeichnen. Das war kein gutes Geschöpf. Es war verdorben und angsteinflößend. Ich machte einen Schritt zurück, denn auch ich hatte Angst. Nur ein Narr hätte keine vor diesem Wesen. Der Tod selbst stand ihm ins Gesicht geschrieben und wer konnte schon sagen, ob es nicht tatsächlich ein Todbringer war?

Ein Knacken unter meinem Stiefel ließ mich erschrocken stehen bleiben. Natürlich musste das morsche Holz genau jetzt um Aufmerksamkeit schreien. Ich sah den Verräter unter meinem Fuß an und dann, als ich wieder aufblickte, bekam ich den nächsten Schock. Das Geschöpf der Nacht sah direkt in meine Richtung. Sein rotglühendes Auge leuchtete hell auf, die Spitze seines Horns gab ein Licht von sich, was die Lichtung noch mehr erhellte. Es war unmöglich mich zu verstecken. Es hatte mich längst wahrgenommen und entdeckt und zu meinem eigenen Schrecken konnte ich erkennen, wie es sich in Bewegung setzte und direkt auf mich zu kam. Sein Wiehern war Markerschütternd. Panik stieg in mir auf und ich versuchte zurückzuweichen, zu fliehen, aber meine Beine funktionierten in ihrer Koordination nicht so gut, wie sie es sonst taten. Ich stolperte mehr, als das ich lief und dass ich noch nicht hingefallen war, grenzte an ein Wunder. 

Weit kam ich nicht, als mich das tote oder untote Einhorn erreichte. Ich wusste nicht, wie ich es benennen sollte. Ich wusste nur, welche Angst durch meinen Körper schoss, als es bei mir ankam, schrill auf wieherte, sich auf die Hinterbeine stellte und weit die Schwingen ausbreitete. Es war ein armseliger und gleichzeitig erschreckender Anblick. Ich gab selbst einen Schreckenslaut von mir und verlor endgültig mein Gleichgewicht. Unsanft fiel ich auf meinen Hintern, doch ich starrte nur das Wesen vor mir an. Es strampelte mit den vorderen Beinen. Wenn es noch näher kam, würde es mich treffen und tot treten. Die Schwingen flatterten aufgeregt und verloren noch weitere Federn. Jetzt, wo es so nahe war, konnte ich noch mehr Wunden an seinem Leib erkennen. Auf der einen Seite sahen sie aus, als wären sie frisch, auf der anderen Seite wirkten sie so alt, wie das Geschöpf selbst. Narben zogen sich über den ganzen Körper, doch am meisten erschreckte mich immer noch das Gesicht und das rotglühende Auge. Der Schädel, der nur halb mit Fleisch und Fell bedeckt war, würde jedem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Es war unmöglich mich zu bewegen, denn ich war starr vor Angst und sah es einfach nur an. Keinen Finger rührte ich mich und wartete nur darauf, dass es mich tot treten würde. Doch egal wie sehr es schrie und mit den Beinen ausschlug, wie sehr es auch mit den Flügeln flatterte und versuchte mir Angst einzujagen, eines wurde mir langsam klar: 

Es kam nicht näher. 

Ja, es wollte mir Angst einjagen, womöglich mit der Absicht mich zu vertreiben. Aber töten wollte es mich nicht, sonst hätte es das längst getan. Der schrille Aufschrei des Einhorns, welches mir zuvor noch so viel Angst gemacht hatte, klang nach dieser Erkenntnis mehr denn je wie ein schmerzhafter Klageruf seiner Seele. Wo die Angst in mir bis eben noch gewütet hatte und mich nicht bewegen ließ, trat Schmerz und Trauer an die Stelle. Denn während das unheimliche rotglühende Auge abschreckend wirkte, so durfte ich keineswegs die andere Gesichtshälfte vergessen. Die, die noch gesund aussah und wo das blaue Auge den Schmerz zeigte, den dieses Wesen ertrug.

Erneut stockte mir der Atem. Diesmal nicht aus Angst, sondern aus Mitleid und Trauer. Ich litt mit ihm, obgleich ich nicht einmal wusste, was ihm widerfahren war. So schrecklich sein Anblick auch war, so wenig glaubte ich nun daran, dass es wirklich ein bösartiges Wesen war. Die Starre, die bis eben noch meinen Körper festgehalten hatte, löste sich auf und ich erhob mich. Ich sah ihm direkt in die Augen, in das Gesicht, sagte nichts und wartete nur. Es wieherte noch immer ungehalten, aber dadurch, dass ich mich nicht mehr zurückschrecken ließ, begriff es wohl, dass es auch nicht mehr nötig war so einen Aufruhr zu veranstalten. Es ließ sich wieder auf alle vier Hufe fallen und trat einige Schritte zurück. Sein Kopf zuckte mal hier hin, mal dahin und behielt mich ständig im Blick. Ob es versuchte die Situation einzuschätzen? Mir ging es nicht anders und als ich einen Schritt auf es zu machte, konnte ich spüren, wie weich meine Knie waren. Ein Rest der Angst war immer noch da, denn ich konnte nicht vorhersagen, wie es reagieren würde. Doch ich wollte nicht mehr in Panik ausbrechen und mich dieser Angst stellen. Nur langsam bewegte ich mich auf dieses seltsam anmutige Wesen zu, streckte meinen rechten Arm weit nach vorn aus und hielt meine Hand offen dar. Ich wollte es weder verschrecken noch provozieren. Dennoch blieb ich standhaft und ging auf es zu. Die ersten Schritte wich es selbst zurück, bis es stehen blieb und drauf wartete, dass ich den Abstand zwischen uns beiden verringerte. Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis meine Fingerspitzen zaghaft den Kopf des Einhorns berühren konnte. Zuerst das Fell und damit die gesund aussehende Seite. Ich wagte mich noch nicht weiter vor und hielt still und den Atem an. Es ging ihm gleich. Auch er hielt den Atem an und rührte sich keinen Millimeter, bis ich es weiter versuchte. Noch einen Schritt kam ich näher, um einen relativ entspannten Stand zu haben und strich mit großer Vorsicht über seine Nüstern. Meine Finger zitterten genauso wie meine Beine, aber ich ignorierte es. Als ich dann auch den Knochen des Schädels berühren konnte, sog ich tief die Luft ein. Die Ohren des Wesens drehten sich nach hinten und ich glaubte, dass es den Kopf gleich heftig zurückzog. Nichts geschah. Es drehte die Ohren wieder nach vorn und hielt still, so dass ich es weiter berühren konnte. 

»Du armes Ding«, murmelte ich leise. Es lauschte auf meiner Stimme, ich konnte es in seinem Gesicht erkennen und an seinen Ohren, die sich auf mich richteten. Ich ignorierte das rotglühende Auge, in dem jeglicher Ausdruck fehlte, während sein blaues Auge seine Seele zeigte.

»Was hat man dir nur angetan?« Ich erwartete keine Antwort, doch das Leid, was ich sehen konnte, erschütterte mein eigenes Herz. Wenn ich könnte, würde ich alles Ungeschehen machen, aber ich war keine Zauberin, die solch mächtige Magie einsetzen konnte. Bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal gedacht, dass es so etwas wie Magie tatsächlich geben könnte, doch der Anblick dieses Geschöpfes lehrte mich etwas Besseres. Man musste es nicht immer sehen, damit es tatsächlich wahr war. Ein geflügeltes Pferd kam nur in Geschichten und Mythen vor, doch ich war mir nun sicher, dass an so mancher Geschichte wohl auch etwas Wahres dran sein musste. 

Vorsichtig streichelte ich diesem wundersamen Geschöpf über den Kopf, vermied es aber das Horn anzufassen. Mir war, als dürfte man das nicht so einfach und ich wollte es auch nicht. Stattdessen strich ich über seinen Hals und die Flanke und glaubte Nähe zu spüren, die sich zwischen uns aufbaute. Wie lange ich so mit ihm dastand, wusste ich nicht. Mir war, als könnte ich ihm ein wenig Linderung verschaffen, was aber völlig absurd war. Ich war nur ich selbst und konnte nicht viel für es tun. Weder konnte ich die Wunden verheilen lassen noch das Leid ungeschehen machen, was es wohl erlitten haben musste. Das Heulen eines Wolfes in der Ferne ließ mich aufblicken. Könnte es von ihnen angegriffen worden sein? Irgendwie glaubte ich das nicht, denn als ich es wieder ansah …

Ja, als ich es wieder ansehen wollte, da bemerkte ich, wie es sich von mir entfernt hatte.

»Warte, wohin willst du denn?«, rief ich ihm nach. Es sah zu mir zurück und ich war mir sicher, dass es meine Worte verstanden hatte. Nur antworten konnte es nicht. Nicht so wie ein Mensch und dennoch verstand ich es auch ohne Worte. Es wurde Zeit zu gehen und so sah ich ihm nach, wie es zwischen den dunklen Bäumen verschwand. Auch für mich wurde es Zeit zu gehen, zurückzukehren zu meinem Dorf. 

Welch seltsame Nacht … 

 

Wer hätte das gedacht? Natürlich hatte ich die Nacht kaum schlafen können und als meine Mutter in mein Zimmer kam, um mich aus dem Bett zu scheuchen, da erhob ich mich ohne zu murren. Auf der einen Seite war ich müde, auf der anderen viel zu wach. Meine Gedanken kreisten um das Geschöpf der Nacht, das so viel Leiden in sich trug und so schrecklich auf andere Menschen wirken mussten. Was war ihm angetan worden? Ich glaubte nicht, dass es schon immer so ausgesehen haben musste. Vermutlich war es einst ein stolzes, wunderschönes Wesen gewesen, welches mit seinen kräftigen, großen Schwingen über das Land geflogen war. Egal wie sehr ich darüber nachdachte, eine Antwort fand ich nicht. Aber vielleicht konnte ich etwas herausfinden. Ich stand auf und wusste, dass ich nicht sofort zurück in den Wald laufen konnte, um es zu suchen. Der Tag würde ich damit verbringen müssen meiner Mutter bei der Hausarbeit zu erledigen. Normalerweise hätte sie mich ins Dorf geschickt, um frische Eier vom Bauer Rudolf zu kaufen oder Käse, der sich langsam bei uns dem Ende entgegen neigte. Doch die Schwellung an meiner Schläfe war deutlich sichtbar. Dementsprechend pochten auch schreckliche Schmerzen in meinem Kopf, die ich, ohne das Gesicht zu verziehen, erduldete. Es war nicht das erste Mal, dass ich die Folgen einer harten Ohrfeige meines Vaters spürte und ich war mir sicher, dass es auch nicht das letzte Mal sein würde. Nie konnte ich mit Garantie sagen, ob das, was ich aussprach, seine Wut weckte oder nicht. Er war nach all den Jahren für mich immer noch so unberechenbar wie am ersten Tag. Ich konnte auch nicht recht nachvollziehen, woher seine Wut stammte, die explosionsartig auftrat und so schnell wieder verpuffte, wie sie gekommen war. War er mit seinem Leben so unzufrieden, dass er es an mir auslassen musste oder hatte er mich wirklich einfach nur leid und wollte mich deswegen jedes Mal zum Schweigen bringen? Besonders viel Liebe hatte ich von meinen Eltern nie erhalten, doch mittlerweile weinte ich nicht mehr in der Nacht mir die Augen deswegen aus. Es brachte ja doch nichts. Was das anging, hatte ich mich längst damit abgefunden, obwohl es sehr traurig war.

»Selena, hol frisches Wasser aus dem Brunnen«, wies mich meiner Mutter an. Ich gehorchte ihr ohne Widerworte und verließ das Haus nur für ein paar Meter. 

Der Tag verging, ohne dass etwas Spannendes passierte. Meine Eltern unterhielten sich über dies und jenes, was mich nicht sonderlich interessierte, denn es waren kleine Dinge des Alltags. Was aus Ludwig wurde, wusste ich immer noch nicht. Es gab normalerweise die Todesstrafe bei Mord, warum also hing er noch nicht? Es war nicht so, dass ich seinen Tod herbei sehnte, doch ich wunderte mich, dass bisher nichts unternommen worden war, abgesehen ihn einzusperren. Sonst war Priester Theodor und die anderen Dörfler sehr schnell damit Verbrecher zu bestrafen. Dieben wurden die Finger abgehackt und andere Übeltäter bekamen ebenfalls schnell ihre strafe. Es hatte so manche Hinrichtung durch den Strick gegeben, wobei dies eher selten vorkam. In all den Jahren, in denen ich bereits auf der Welt lebte, hatte ich bisher zwei solche Verurteilungen miterlebt. Einmal war es jemand gewesen, der von weit her kam und sich an einer Frau aus dem Dorf vergangen hatte und einmal hatte es tatsächlich ein schlimmes Drama in einer Familie gegeben. Ich war zu klein, um mich genau daran zu erinnern, demzufolge konnte ich es kaum wiedergeben. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, was aus Ludwig wurde. Zögerte man bei ihm, weil er verrückt geworden war und man deshalb der Ansicht war, dass er für seine Tat vielleicht nichts konnte? Oder lag es daran, dass es »nur« Fred gewesen war, der alte Säufer, der zu Tode gekommen war? Ich sollte mir darüber keine Gedanken machen.

Als die Sonne unterging und meine Mutter mich nicht weiter für den Haushalt einspannte, ging ich früh in mein Zimmer und damit in mein Bett. Zumindest dem Anschein meiner Eltern nach. Dass ich vorhatte wieder in den Wald zu gehen, würde ich ihnen nicht sagen. Sie hatten nicht mitbekommen, dass ich mich letzte Nacht weg geschlichen hatte und sie sollten es auch diese Nacht nicht mitbekommen! Ich wartete ab, bis ich mir sicher war, dass meine Eltern von meinem nächtlichen Ausflug nichts mitbekamen. Erst dann stahl ich mich aus dem Haus und schlich mich zum Waldrand. Ob ich den Weg zur Lichtung wieder finden würde? Noch bevor ich den Wald erreichte, entdeckte ich den Fremden, der mich dabei beobachtete, wie ich durch die eintretende Dämmerung lief. Ich erschrak mich vor seinem Schatten und starrte zu ihm hinüber. Außer ihn konnte ich sonst niemanden entdecken und als er sich diesmal von mir abwandte und ging, war ich mir sicher, dass er mich nicht verraten würde. Was sollte er auch sagen? Er konnte nicht wissen, was ich vorhatte! Dennoch fühlte ich mich ertappt und überlegte umzukehren. Sollte ich? Ich schüttelte den Kopf als Antwort und ging weiter, direkt in den Wald hinein.

Meine Kopfschmerzen waren immer noch vorhanden und nachdem ich Stundenlang den Weg zur Lichtung gesucht hatte, ohne Erfolg, dachte ich tatsächlich über den Rückweg nach. Das Pochen in meiner Schläfe wurde immer stärker und ich wurde müde. Außerdem hingen dicke Wolken vor dem Mond, so dass ich kaum etwas erkennen konnte. Es war schwer sich zu orientieren. Vielleicht war das doch eine blöde Idee gewesen? Ich ließ mich an einem Baum hinabgleiten und setzte mich auf das weiche Moos. Was wollte ich überhaupt? Dieses Geschöpf wiedersehen, um sicherzugehen, dass es nicht nur ein Traum gewesen war? Vermutlich schon, und dann … ? Selbst wenn ich es wiedersah, konnte ich für ihn nichts mehr tun. Es war ein Hengst gewesen. Vielleicht sollte ich ihm einen Namen geben? Vorausgesetzt ich sah ihn jemals wieder und es war nicht nur eine Einbildung meiner Phantasie gewesen. Meine Augen wurden schwer, jetzt wo ich hier unter dem Baum saß und mich ein wenig ausruhte. Die nächtliche Stille um mich herum, half auch nicht dabei mich wachzuhalten und langsam wurde mir immer kälter. Diesmal hatte ich extra meinen Mantel angezogen, den ich eng um meinen Körper schlang. Wenn ich hier einschlief und nie wieder aufwachte, würde dann jemand nach mir suchen kommen? Meine Augen waren bereits geschlossen und mein Geist driftete weit weg, als ich eine sanfte Berührung an meiner Wange bemerkte. Ich schreckte davon auf und spürte den warmen Atem auf meinem Gesicht. Meine Augen waren weit aufgerissen als ich die Nüstern erkannte, die mich angestupst hatten. Zwei Schritte ging das seltsame Wesen zurück, damit ich aufstehen konnte. Ich traute meinen Augen kaum. Noch immer war sein Anblick schrecklich, aber diesmal versuchte er mich nicht mit seinem Geschrei und seinen Drohgebärden zu verscheuchen.

»Du bist es«, sagte ich und hob meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Es war ehrliche Freude ihn wiederzusehen. Jeder andere wäre schreiend vor ihm davon gelaufen, aber ich wollte und konnte nicht. Seine Ohren richteten sich auf mich und seine unterschiedlichen Augen musterten mich genauso. Ich trat zu ihm heran, hob meine Hand und hielt sie an seinen Nüstern. Er schnupperte an mir und ich streichelte ihn.

»Diesmal hast du mich gefunden.« Hätte er es nicht, wäre ich auf jeden Fall eingeschlafen und was dann aus mir geworden wäre, konnte ich nicht sagen. Mit jeder weiteren Nacht wurde es kälter, da der Herbst langsam den Winter einkehren ließ. Diese Nacht hätte ich vielleicht überlebt, aber schon eine Woche später würde das bestimmt anders aussehen. Wenn nicht zufällig ein paar Wölfe kamen, um mich aufzufressen, versteht sich. 

Das geflügelte Einhorn löste sich von meinen Händen und ging weiter. War das schon ein Abschied? Er blieb stehen und sah zu mir zurück. Es glich einer stillen Aufforderung mit ihm zu kommen und so folgte ich ihm. Er führte mich zu der Lichtung, auf der ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Jetzt, wo ich ein zweites Mal hier war, erschien mir die Lichtung weniger furchteinflößender. Die Wolken vor dem Mond zogen weiter, so dass nun doch noch ein bisschen mehr Licht auf uns hinab schien und ich mehr erkennen konnte. Doch es half alles nichts. Der Anblick meiner neuen Bekanntschaft sah nicht besser aus als die letzte Nacht. Sein Anblick ließ mein Herz schwer werden und ich trat wieder näher an ihn heran, um über seinen Leib zu streicheln. Ich spürte unter dem Fell seine Rippen und versuchte die offenen Wunden, die er besaß zu vermeiden. Ich wollte ihm kein größeres Leid zufügen. 

»Ich hätte ein paar heilende Kräuter mitbringen sollen. Tut mir leid, dass ich nicht schon vorher dran gedacht habe.« Über meine Dummheit schüttelte ich nur selbst den Kopf. Mit den Kräutern von Cassandra hätte ich wenigstens ein paar seiner Wunden versorgen können! Wieso kam ich erst jetzt darauf? Das geflügelte Einhorn schnaubte nur auf und gab mir mit seinen Nüstern nur wieder ein weiteres Anstupsen. Ich lächelte erneut, denn es schien, als wollte er mir sagen: »Mach dir keine Sorgen um mich, ich komme zurecht!« Er war so tapfer, dass ich ihn in mein Herz schloss. Ich konnte einfach nicht anders. Sein Anblick mochte erschreckend sein, aber seine Seele war gut, egal, was sie alles erlebt und erlitten hatte. Deswegen schlang ich auch meine Arme um seinen Hals und drückte ihn liebevoll und fest. Ich wollte ihm ein wenig Trost spenden. Ob es mir gelang, wusste ich nicht, aber irgendwie wollte ich zeigen, dass er nicht mehr allein auf dieser Welt war. So wie ich es nicht mehr war.

»Morgen komme ich wieder, das verspreche ich dir!«, flüsterte ich in sein Ohr und gab ihm noch einen Kuss auf den Mähnenansatz. Scheu besaß ich keineswegs mehr vor ihm. Ich löste mich von ihm, lächelte und verließ die Lichtung, doch zuvor winkte ich ihm ein letztes Mal zu. Ob er diese Geste verstand, wusste ich ebenso wenig. Auf den Weg nach Hause überlegte ich mir, wie ich ihn nennen könnte, doch mir fiel kein gescheiter Name ein. Ich wollte, dass sein Name stolz klang, anmutig und schön. So wie er es war. 

 

Am nächsten Morgen war es schwieriger aus dem Bett zu kommen, denn ich war furchtbar müde. Doch sobald ich an meinen neuen Freund dachte, konnte ich mich aufraffen. Die Ungeduld in mir ließ mich meine Arbeit nur halbherzig machen und sehr oft musste mich meine Mutter an diesem Tag ermahnen. Ich ließ Teller fallen, fiel über meine eigenen Füße und brachte es fertig einen der Mehlsäcke umzustürzen, was natürlich zu einer kleinen Katastrophe im Haus führte. Meine Mutter zeterte ungehalten und ich versuchte das Schlamassel so gut es ging wieder zu beseitigen. Wie ich danach ausgesehen hatte, konnte sich jeder denken. Eigentlich war noch kein Waschtag gewesen, doch mir blieb gar nichts anderes übrig, wollte ich all das Mehl aus meinen Haaren und meinen Sachen bekommen. Ich hoffte, dass meine Mutter meinem Vater gegenüber nichts sagte, denn ich befürchtete, dass er wütend wurde und ich eine weitere Tracht Prügel erhielt. Meine Kopfschmerzen waren immer noch vorhanden und bevor die Sonne unterging und mein Vater von seiner Arbeit zurückkam, verließ ich das Haus. Meiner Mutter war es diesmal egal. Solange ich alles erledigte und nicht zu spät nach Hause kam, durfte ich durchaus auch unterwegs sein, ohne dass sie direkt nachfragte, was ich tat. Nur anständig musste ich bleiben und durfte mir nichts zu Schulden kommen lassen. In all den Jahren hatte ich nie groß etwas angestellt. Die Angst vor den Schlägen meines Vaters hatten mich stets im Zaun gehalten. Hinzukam, dass ich allein von meiner Persönlichkeit wenig daran interessiert war mir Ärger einzuhandeln. Das bedeutete jedoch nicht, dass der Ärger nicht trotzdem zu einem kam. 

 

Wie geplant, wollte ich zu Cassandra, unserer Dorfhexe. Eine Hexe war sie nicht. Sie konnte nicht zaubern, niemanden verfluchen oder sonst was für Verwünschungen aussprechen. Sie war aber gut darin ihre Heilmedizin herzustellen, die manchmal einfach zu gut und zu schnell wirkte. Genau deswegen glaubten manche Dörfler, sie wäre eine Hexe. Wie konnten manche Wunden oder manche Krankheit so schnell verheilen? Da musste einfach Hexerei dahinter stecken. Ich fand es lächerlich und war der Meinung, dass man über solche Entwicklungen eher froh sein sollte. Wer lief schon gerne Tage oder Wochen lang mit Schmerzen umher? Ich nicht, weswegen ich nun an der Tür von Cassandras Hütte klopfte. Zugegeben, als sie mir öffnete, musste ich gedanklich einigen Dorfbewohnern Recht geben. Sie hatte ein gewisses Hexenambiente an sich. Ihre roten Haare waren ziemlich auffällig, obwohl sie kaum etwas dafür konnte. Man wurde eben mit dem geboren, was einem die Eltern in die Wiege legten. Aber auch ihre dunklen Kleider, Ketten und ihre schwarze Hauskatze führten dazu, dass sie als Hexe beschimpft wurde. Das Beeindruckendste an ihr war aber schon immer ihr Selbstbewusstsein gewesen. Es interessierte sie nicht, was andere von ihr hielten, solange sie das tun konnte, was sie wollte. Sie half den Menschen, obwohl diese über sie schimpften. Sie war ein guter Mensch, davon war ich überzeugt.

»Guten Abend Selena, du warst lang nicht mehr bei mir«, begrüßte sie mich. Nein, sie sah nicht wie eine alte, hässliche mit Warzen übersäte Hexe aus. Diesem Klischee war sie ausnahmsweise nicht treu. Auch wenn Cassandra auf die Vierzig zuging, empfand ich sie nicht als hässlich. Sie war jetzt auch nicht so schön, dass sie damit glänzen würde. Eher ein normaler Typ, wenn man mich fragte. 

»Hallo Cassandra, ich hoffe, ich störe dich nicht?«, erwiderte ich ihren Gruß. Lange Zeit hatte ich sie immer höflich angesprochen, bis sie mir eines Tages gesagt hatte, ich solle sie duzen. Seitdem tat ich es und sie war trotz des Altersunterschieds wie eine gute Freundin für mich. Ich kam in ihre Hütte, als sie mich herein bat und konnte sofort all die Kräuter riechen. Sie trocknete diese oder verarbeitete sie frisch. Den Geruch der Pflanzen in diesem Haus mochte ich sehr. Es belebte sofort meine Sinne.

»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte sie mich und ging zu dem kleinen Kessel über dem Herdfeuer.

»Ja, bitte«, antwortete ich ihr und sah mich um. Neben den aufgehängten Pflanzen unter dem Dach, die auf diese Weise getrocknet wurden, konnte ich Regale und Schränke voller Tiegelchen und Töpfchen sehen. Pflanzentöpfe waren ebenfalls darunter, in denen die Kräuter wuchsen. Cassandra besaß meiner Meinung nach auch die größte Sammlung an Büchern, die ich je gesehen hatte. Würde ich die Stadtbibliothek zu Gesicht bekommen, würde ich meine Meinung zwar ändern, aber was ich nicht kannte, konnte ich auch nicht bestaunen. Von keinem anderen Dörfler wusste ich, dass er so viele Bücher besaß wie Cassandra. Schon manches Mal hatte ich in ihre Bücher hinein schauen dürfen, doch meistens konnte ich nicht viel damit anfangen. Die Dinge, die darin standen, waren für mich nur schwer zu verstehen. Weder konnte ich gut lesen noch schreiben. Ein bisschen nur und daher war es schwierig die aufgeschriebenen Heilmethoden zu verstehen, die in den Büchern standen. Cassandra hingegen war sehr gebildet. Vermutlich war das auch einer der Gründe, weshalb die Männer ihr gegenüber so skeptisch waren. Frauen waren sonst nicht so schlau wie sie. War das der Grund, weshalb sie weder Mann noch Kinder hatte? 

»Was führt dich zu mir? Und setzt dich doch«, fragte und forderte sie mich auf. Ich nahm an dem Tisch in der Mitte des Raumes Platz und dankte ihr, als sie mir eine Tasse heißen Kräutertee hinstellte. In dem Moment, als ich meine Hände um die Tasse schlang, auf den Tee sah und dann beginnen wollte, sie um ein paar Heilsalben zu bitten, spürte ich auch schon ihre Hand an meinem Kinn. Sie hob es an und drehte meinen Kopf etwas zur Seite.

»Ah ja, ich verstehe.« Skeptisch musterte sie meine Schläfe, die nach wie vor blau und geschwollen war. Meine Mutter mochte es nicht, wenn ich so im Dorf umher laufe, denn niemand sollte wissen, dass mein Vater mich schlug. Doch Cassandra wusste es, obwohl ich es ihr nie erzählt habe. Die ersten Male hatte meine Mutter und ich noch darauf schieben können, dass ich einfach zu ungeschickt war. Doch immer wieder hatte ich Blessuren gehabt und deswegen hatte sich das Kräuterweib wohl eines Tages denken können, was wirklich die Ursache hinter meinen blauen Flecken und Prellungen war. Außerdem kannte sie das Gemüt meines Vaters. Wenn er sich über etwas ärgerte, dann regte er sich auf, egal wo er war, obgleich er wohl andere nie schlagen würde. Es sei denn er geriet tatsächlich in eine Schlägerei, aber das passierte eher selten. Was schon recht seltsam war, angesichts seines Temperaments. 

»Deswegen bin ich nicht hier«, sagte ich.

»Tatsächlich? Ich gebe dir trotzdem etwas für die bessere Heilung«, meinte sie und ich lächelte ihr dankbar zu.

»Das ist lieb von dir, danke!« Cassandra war mir gegenüber immer sehr fürsorglich gewesen. Manches Mal hatte ich mir gewünscht, dass sie meine Mutter wäre, dann wären manche Dinge vielleicht einfacher und interessanter gewesen. Und ich hätte weniger Schläge erdulden müssen. Sie ging zu einem ihrer Regale, wo sie ihre Tuben und Salben aufbewahrte und suchte ein Mittel, was gegen meine Kopfschmerzen und die Schwellung helfen würde.

»Ich wollte dich fragen, ob du mir vielleicht etwas gegen Wunden geben könntest, die entzündet sind.« Als ich meine Bitte äußerte, drehte sie sich zu mir um und sah mich interessiert an.

»Bist du verletzt?«, wollte sie augenblicklich wissen und ich schüttelte hastig den Kopf.

»Deine Eltern?«, fragte sie weiter und auch das verneinte ich. Natürlich wollte sie wissen, worum es ging und wofür ich dieses Heilmittel benötigte. Sie kam zu mir, setzte sich an den Tisch und überreichte mir vorerst die Salbe gegen meine eigene Verletzung. Dazu bekam ich Tabletten, die sie selbst hergestellt hatte.

»Nimm davon eine früh und Abend drei Tage lang und dir wird es bald wieder besser gehen«, erklärte sie.

»Danke!« Das Gute an alldem war, dass Cassandra von mir keinerlei Gegenleistung erwartete. Sie wollte kein Geld und nichts anderes, was sehr ungewöhnlich war. Allen anderen Dorfbewohnern, einschließlich meinen Eltern, knöpfte sie für ihre Heilmittel natürlich Geld ab. Oder etwas anderes als Bezahlung, zum Beispiel Eier, Milch oder frische Wurst. Je nachdem womit die Dörfler bezahlen konnten und was Cassandra gerade brauchte. Doch von mir hatte sie nie etwas angenommen, selbst wenn ich gewillt war zu bezahlen. 

»Also? Wozu brauchst du die anderen Sachen?«, wollte sie von mir wissen. Ich zögerte, denn was sollte und konnte ich ihr erzählen? Würde sie mir von meiner ungewöhnlichen Entdeckung überhaupt glauben?

»Es ist … für ein Tier«, begann ich zögerlich. Sie legte den Kopf zur Seite.

»So? Dann bring es her und ich versorge es«, schlug sie vor. Ich dachte mir, dass das kommen würde und normalerweise würde ich ihr Angebot annehmen.

»Es ist sehr … scheu und ich glaube, es würde sich nicht ins Dorf … bringen lassen«, versuchte ich zu erklären und hoffte auf Verständnis.

»Mhm, verstehe. Nun, wenn dem so ist, werde ich dein kleines Geheimnis für mich bewahren.« Ich erschrak, als sie das sagte, doch sie zwinkerte mir nur verschwörerisch zu.

»Mach dir keine Sorgen darum, ich gebe dir, was du brauchst. Auch wenn es wohl einfacher wäre, wenn ich einen Blick auf deinen tierischen Freund werfen könnte, um besser zu helfen.« Erleichtert atmete ich auf und lächelte wieder.

»Ich kann dir gar nicht genug danken. Eben darum möchte ich dich gar nicht so sehr damit behelligen. Du tust schon zu viel für mich«, sagte ich aufrichtig. Ich war mir fast sicher, dass Cassandra vor dem geflügelten Einhorn nicht zurückschrecken würde, aber wenn ich sie damit hinein zog und es irgendwann versehentlich ans Licht kam, würde man Cassandra erst recht als Hexe bezeichnen. Das würde zu noch mehr Problemen führen und das wollte ich verhindern.

»Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen Kopf, kleine Lena«, sagte sie, als sie sich wieder erhob, um alles Notwendige heraus zu suchen. »Kleine Lena« hatte sie mich schon früher immer genannt. Sie war die Einzige, die mir überhaupt einen Spitznamen gegeben hatte und ihn dabei so liebevoll aussprach. Dadurch fühlte ich mich nur noch mehr zu ihr hingezogen wie ein Kind zur liebenden Mutter. 

Mit all den Tuben, die mir Cassandra überließ, verließ ich ihre Hütte und ging nicht nach Hause. Ich wollte direkt zu ihm, um ihm zu helfen. Ob die Salben halfen, wusste ich nicht, aber ich vertraute Cassandras Fähigkeiten. Schließlich hatte sie mir so viele Male geholfen und es hatte alles sehr gut gewirkt. Warum sollte es diesmal anders sein? Ich wollte optimistisch sein und lief in den Wald. Die Sonne war dieses Mal noch nicht ganz untergegangen, aber natürlich änderte sich das bald. Jedes Mal musste ich so tief in den Wald laufen, dass es kaum möglich war der Nacht zu entgehen. Ich würde am Tage hier her kommen, wenn ich nicht so eingespannt von meiner Mutter wäre. Aber das war mir egal, solange ich die Möglichkeit besaß überhaupt hier her zu kommen. 

»Wo bist du nur?«, fragte ich in den Wald, ohne eine Antwort zu erwarten. Musste ich die Waldlichtung erst erreichen, um ihn wiedersehen zu können? Dabei fand ich es recht schwierig diese Lichtung ausfindig zu machen. Denn jedes Mal, wenn ich wieder herkam, hatte ich das Gefühl, das der Wald in dieser Gegend anders aussah. Das war absurd, doch konnte es wirklich sein, dass meine Erinnerungen so schlecht waren, dass es mir schwer fiel den Weg zur Lichtung zu finden? Nach Hause kam ich ohne Probleme, aber das Herkommen war immer wieder eine kleine Herausforderung.

Als ich dann schon nicht mehr so sicher war, wo genau ich war, blieb ich stehen und drehte mich mehrmals um die eigene Achse. Ich versuchte mich zu orientieren, aber vergeblich. 

»Wo zum … «, begann ich und erschrak mich. Ich blieb stehen, als ich das Rascheln der Büsche hörte und sich dahinter eine Gestalt offenbarte. Durch den Schreck fiel ich über meine eigenen Füße und auf den Boden. Offensichtlich war ich wirklich viel zu ungeschickt. Der Schreck ließ wenigstens schnell nach, denn er kam auf mich zu. Das geflügelte Einhorn, was sich kaum verändert hatte. Obwohl er mir diesmal viel weißer vorkam. Also von der Fellfarbe her. Das war bestimmt nur eine Täuschung. Interessiert schnupperte er in meine Richtung und ich rappelte mich wieder auf seine Füße und kam näher zu ihm. Zuerst wollte ich ihn begrüßen und legte lächelnd meine Hände auf seinen Körper. Ich war glücklich ihn wiederzusehen. Er war wohlauf, wenn man mal von seinem allgemeinen Zustand absah. Er wirkte jedenfalls nicht erschöpfter und kranker als sonst und auch die Wunden hatten sich nicht vermehrt. Als ich über seinen Rücken streichelte, blieben einige seiner Fellhaare an meiner Hand hängen. Ich schüttelte sie ab, so dass schwarze Haare zu Boden rieselten. Ich machte mir darüber Sorgen und strich noch einmal über seinen Rücken mit dem selben Ergebnis. Schwarze Haare lösten sich aus seinem Fell und rieselten sodann zu Boden, als ich sie abklopfte. Dennoch kam es mir so vor, als wäre sein Rücken viel weißer als die letzten Male. Das musste Einbildung sein, weswegen ich den Kopf schüttelte und mich seinem Kopf widmete.

»Siehst du? Ich bin wieder gekommen«, sagte ich und lächelte ihn an. Sein blaues Auge musterte mich und ich glaubte, weniger Leid darin zu lesen, aber auch das könnte eine falsche Annahme sein. Oder könnte es wirklich sein, dass er sich freute mich ebenfalls wiederzusehen? Ich strich ihm sanft über die Nüstern, was ihm zu gefallen schien. Dabei fiel mir noch etwas Weiteres auf. Als ich seine andere Gesichtshälfte begutachtete, die weniger ansprechend war, bemerkte ich, dass weniger von seinem Knochen zu sehen war. Wuchs Fleisch und Fell wieder darüber? Ich war völlig verwirrt. Davon ganz abgesehen, dass er mit solch einer Kopfverletzung eigentlich nicht mehr leben dürfte und ich mir sicher war, dass dahinter einfach Magie stecken musste. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass … Warum eigentlich nicht, stellte ich mir gedanklich die Frage. Vielleicht verheilten seine Wunden ja doch! Oder meine Erinnerungen waren falsch und meine Einbildung versuchte ein hübscheres Bild von ihm zu erschaffen, damit sein Gesicht nicht ganz so furchteinflößend wirkte. Was es auch war, das Wichtigste war, dass es ihm besser ging! 

»Schau, was ich mitgebracht habe«, meinte ich und holte aus meiner Manteltasche die Tuben hervor, die mir Cassandra mitgegeben hatte.

»Das sind Heilsalben für deine Wunden. Ich bin mir sicher, dass sie helfen werden, damit du wieder gesund wirst! Na ja, so gesund wie es eben nur geht.« So optimistisch ich auch sein wollte, so schwer war es zu glauben, dass er seinen alten Glanz zurückbekommen konnte. Nichtsdestotrotz wollte ich alles dafür tun, dass es ihm besser ging und begann damit die Wunden, die über seinen Körper verteilt waren mit der Salbe einzureiben. Ich versuchte es. Denn bevor ich richtig loslegen konnte, wich mein geflügelter Freund ein paar Schritte zurück. Sein skeptischer Blick auf die Tuben sagten mir alles.

»Jetzt hab dich doch nicht so! Es wird dir helfen, glaube mir!«, versuchte ich ihm gut zu zureden, doch er wich immer wieder aus, so dass wir uns am Ende im Kreis drehten. Streng stemmte ich die Hände in die Hüften und musterte ihn kritisch. 

»Wenn du nicht stehen bleibst und mich dir nicht helfen lässt, wird das nichts!«, ermahnte ich ihn. Er senkte den Kopf zu Boden, wackelte mit den Ohren und schnaubte. 

»Du wirst doch nicht störrisch wie ein Esel sein, oder? Pass nur auf, meine Sturheit ist viel größer als deine!« Ich versuchte es erneut und diesmal blieb er ruhig stehen. Ich konnte zwar seine Skepsis noch immer spüren, aber ich redete weiter und etwas liebevoller auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. An manchen Stellen, die ich mit der Salbe behandelte, zuckte er. Ich wusste, dass es ihm Unbehagen verursachte und entschuldigte mich deswegen bei ihm, versicherte ihm allerdings auch, dass es ihm wirklich helfen würde.

Die einzigen Stellen, die ich am Ende noch nicht behandelt hatte, war sein Gesicht und seine Flügel. Bei seinem Gesicht wusste ich nicht, was ich tun sollte. Diese Salbe würde unmöglich Fleisch und Fell über die Knochen wachsen lassen können, was mir unendlich leid tat. Er schnaubte und stupste mich mit seinen Nüstern an, als wollte er mir sagen, dass das in Ordnung geht. Dann ist es eben so. Als hätte er sein trauriges Schicksal akzeptiert. Doch seine Flügel sollten wenigstens heilen! Auch wenn keine neuen Federn wachsen würden, so sollten wenigstens die offenen und blutigen Kratzer und Wunden verheilen. Es würde ihm Schmerzen nehmen und so machte ich mich daran auch dort alle Wunden, die ich finden konnte, einzureiben. Es war nicht einfach und manche Stelle versuchte ich auch mit ein wenig Wasser und einem sauberen Lappen, den ich mitgebracht hatte, erst zu reinigen. Dass das ihm nicht gefiel, war klar gewesen, doch trotz allem blieb er mit mir geduldig und erduldete alles, was ich tat. Er war so tapfer! Und er war intelligenter als ich bisher angenommen hatte. Davon war ich überzeugt. Als ich am Ende dann fertig war, hatte ich all die Salbe aufgebraucht, die mir Cassandra mitgegeben hatte. Zudem war ich ziemlich müde und setzte mich einfach hin, dort wo ich noch eben gestanden hatte. Das Schöne daran war, dass auch er sich niederließ und sich zu mir legte. Das gab mir die Möglichkeit mich an ihn zu lehnen. Diese Zweisamkeit hatte etwas Magisches und sehr Beruhigendes. Ich konnte es nicht in Worte fassen, als ich meinen Kopf gegen seinen Hals lehnte und ihm sanft über das Fell strich. 

»Ich bin dankbar und froh darüber, dich getroffen zu haben«, murmelte ich. Meine Augen fielen nur wenige Minuten später zu, so dass ich die Nacht hier im Wald verbrachte. Am nächsten Morgen war er nicht mehr da und ich war in Eile nach Hause zu kommen. Doch ich wusste, was passiert war. Ich wusste, wie er die ganze Zeit über mich gewacht und mich gewärmt hatte und ich wusste, dass es ihm besser ging als beim ersten Mal, als ich ihn traf. Dieses Wissen ließ mich die nächsten Tage über lächeln. 

 

Es war nicht einfach der Wut meines Vaters auszuweichen. Als ich erst am Morgen nach Hause kam, war es bereits meinen Eltern aufgefallen, dass ich nicht in meinem Bett gelegen hatte. Natürlich hatte es ein Donnerwetter gegeben und die Hand meines Vaters hatte mich mit solcher Wucht getroffen, dass ich mehrere Minuten orientierungslos am Boden lag. Meine Ausrede war ganz einfach gewesen: Ich hatte mich im Wald verirrt, weil ich die Zeit vergessen hatte und es dunkel geworden war. Eine richtige Lüge war es nicht einmal, wenn man die Tatsachen nur ein wenig abänderte und drehte. Am Tag war es prinzipiell einfacher sich im Wald zurechtzufinden als in der Nacht. Von meinem Freund hatte ich nichts erzählt und er war auch der Grund, weshalb ich alles ertrug und trotzdem über die Tage lächeln konnte. Zwar wusste ich, dass meine Eltern mich nun genauer im Auge behielten, doch das hielt mich nicht davon ab, mich immer wieder davon zu stehlen, in den Wald zu gehen und ihn zu besuchen. Ich überprüfte seine Wunden und manchmal holte ich mir weitere Salben von Cassandra. Obgleich sie neugierig darüber war, wer mein Patient war, fragte sie nicht weiter nach. Sie nahm es hin, vertraute mir einfach. Ich überlegte, ob ich sie nicht doch irgendwann mal mitnehmen sollte, wenn er wieder ein bisschen besser aussah. Über die Wochen konnte ich den Heilungsprozess sehr gut verfolgen. Die offenen Wunden schlossen sich und was ich am Anfang noch als Einbildung deklariert hatte, war nun Wirklichkeit: Sein Fell wurde weißer! Die grauen und schwarzen Stellen im Fell gingen zurück und hinterließen das weiße Fell, wie man es von so einem Geschöpf erwarten würde. Oder hatte es etwas Subtileres und es war lediglich das Winterfell, was er nun bekam? Immerhin wurden die Tage immer kälter und kürzer und die Nächte länger. Es war mir egal, welche Farbe sein Fell hatte, solange es ihm gut ging. Ob schwarz, weiß oder in Erdfarben: Er war für mich ein Wunder, was ich pflegen wollte. Ganz tief in mir drin hoffte ich, dass er eines Tages wieder fliegen konnte, doch jedes Mal, wenn ich seine kahlen Flügel sah, geriet diese Hoffnung ins Wanken. 

Eines Tages, als ich wieder zu ihm wollte, änderte sich so ziemlich alles. Der Winter war bereits eingekehrt und die ersten Schneeflocken rieselten vom Himmel. Diese Nacht würde bitterkalt werden, das wusste ich, aber gleichzeitig spendete der frisch gefallene Schnee ein wenig mehr Helligkeit. Mich im Wald zu orientieren war nun viel einfacher. Das Interessanteste daran war, dass ich trotz der zwei Monate im Wald immer noch meine Probleme hatte. Egal wie gut ich mich erinnern konnte, der Weg war immer wieder anders. Mittlerweile fand ich mich einfach damit ab, dass dahinter irgendein Zauber steckte. Vermutlich sogar von ihm selbst, um sich zu schützen? Oder war der Wald selbst sehr magisch? Ich wusste es nicht. Sei‘s drum, solange ich zu ihm kam! Trotz aller Verirrungen, die ich erlebte, fand ich jedes Mal zu ihm oder er fand mich. Mein Leben drehte sich ausschließlich nur noch um ihn, denn im Dorf hielt mich nicht viel. Außer Cassandra. Sie war die Einzige, zu der ich gerne hinging, bei der ich gerne Zeit verbrachte. Sie hatte damit begonnen mir zu zeigen, wie ich manche Salben zubereiten konnte, was ich dafür benötigte und wie lange es brauchte, bis sie einsatzbereit war. Denn manches Mittel musste erst eine gewisse Zeit stehen und seine Wirkungen entfalten, ehe man es einsetzen konnte. Ich war ihr unglaublich dankbar dafür, auch dafür, dass sie mich nicht ausfragte, was ich in mancher Nacht tat. Wohin ich ging. Ich war mir sicher, dass sie es bereits mitbekommen hatte, wie ich mich davon schlich, um in den Wald zu gehen. 

»Mir ist immer noch kein Name eingefallen«, stöhnte ich über mich selbst und strich über die Flanke meines Freundes. Ich stand bei ihm und bewunderte seine Statur. Er sah viel besser aus als zu Anfang. Die meisten Wunden waren verschlossen. Einige von ihnen würden als Narben zurückbleiben, andere waren gänzlich verheilt. Meine Pflege oder eher die Heilsalben von Cassandra hatten ihre Wirkung getan. Ich war so glücklich darüber! Nur nicht darüber, dass ich so unglaublich unkreativ war mir einen passenden Namen für ihn auszudenken. Insgeheim dachte ich mir, dass er sicher schon einen besaß und ihn mir nur nicht mitteilen konnte, weshalb ich mich mit der Namensgebung so schwer tat. Ich wollte ihn nicht irgendwie nennen, sondern so, wie er tatsächlich hieß. Oder was zu ihm passte. Aber welcher Name war passend für so ein wundersames Geschöpf? 

Er schnaubte in seiner ruhigen Art auf und genoss es, wie ich ihm unter dem Kinn kraulte. Er war mein liebster Freund, bei dem ich für immer bleiben wollte. Er gab mir die Möglichkeit aus dem grauen Alltag zu fliehen und von Magie zu träumen. 

Ein weiteres Mal schnaubte er auf, hob den Kopf und sah mit wachsamen, aufgestellten Ohren zum Waldrand. Ich folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts erkennen.

»Was ist? Was hast du?«, fragte ich ihn leise und wartete. Dann hörte ich es, das verräterische Rascheln der Büsche! War es ein wildes Tier, was dort umher schlich? Möglich war alles, doch was in den nächsten Augenblicken auftauchte, hätte ich nicht erwartet. Mir fiel die Kinnlade nach unten und mein Freund stellte sich aufgeregt auf die Hinterbeine. Er wieherte drohend, wie er es einst bei unserer ersten Begegnung getan hatte. Ich stellte mich vor ihn, allerdings mit dem Rücken zu ihm. Nicht ihn wollte ich beruhigen, sondern verhindern, dass man ihm zu nahe kam.

»Cassandra, bitte … «, flehte ich, denn in mir stob Panik auf, ähnlich wie bei ihm. Sie kam mit langsamen Schritten näher und ich befürchtete das Schlimmste. Wie wirkte er auf andere Menschen? Sicher doch wie ein Ungeheuer, wie ein Dämon aus der Unterwelt. Niemand aus dem Dorf würde Verständnis für ihn aufbringen, nicht in ihrem festgefahrenen Glauben! Doch wie stand es um Cassandra? Ich konnte keine Wut, keine Angst in ihrem Gesicht erkennen, als sie näher heran kam. Hinter mir konnte ich immer noch die Aufregung spüren, doch er war mittlerweile wieder auf allen vier Hufen, auch wenn er nervös hin und her tänzelte.

»Das ist also dein kleines, nächtliches Geheimnis«, sagte Cassandra und begann zu lächeln. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte und sagte deshalb vorerst nichts. Stattdessen versuchte ich herauszufinden, was sie von ihm hielt, wie sie ihn sah. Doch alles, was ich in ihrem Gesicht ablesen konnte, war Faszination, keine Furcht und kein Hass. 

Schlussendlich war Cassandra mir gefolgt, weil sie zu neugierig war. Sie hatte wissen wollen, was ich so trieb und entschudligte sich, doch gleichzeitig offenbarte sie mir auch wie unglaublich sie das alles hier fand.

»Die Salben waren also für ihn?« Ich nickte stumm auf ihre Frage. Sie war mir nicht böse und konnte nachvollziehen, warum ich niemanden von ihm erzählt habe. Zu gerne würde sie ihn auch berühren, doch schnell wurde klar, dass er sich von niemanden anfassen ließ außer von mir selbst. Auch das nahm Cassandra als gegeben hin und versicherte mir, dass sie niemandem davon etwas verraten würde. Mit wem sollte sie schon darüber reden? Die meisten Dörfler mieden sie, wenn es ihnen möglich war. 

»Glaubst du, es gibt ein Mittel, was seinem Gesicht helfen könnte?«, fragte ich das Kräuterweib. Ihr Wissen war viel größer als meines, doch auch sie sah kritisch drein und hatte wenig Hoffnung.

»Dass er überhaupt damit leben kann … « Es erstaunte sie genauso wie mich und ich nickte erneut. Sie versprach mir in ihren Büchern nachzuschauen, doch sie gab mir keine Hoffnung. Denn sie wollte nicht, dass ich am Ende enttäuscht wurde. Ein so mächtiges Heilmittel war ihr bislang nicht bekannt, was nicht bedeutete, dass es nicht existieren musste. Doch die Wahrscheinlichkeit war eher gering, dass wir solch eines auftreiben könnten, sollte es tatsächlich geben.

 

Einige weitere Male kamen Cassandra und ich gemeinsam zu ihm in den Wald. Nicht immer konnte sie mich begleiten, doch wenn sie es tat, dann hatte sie stets ein Mittel dabei, was wir an ihm versuchten. Sie bestätigte mir, dass es ihm nicht schaden würde. Im schlimmsten Fall würde einfach nichts passieren. Sie wollte lediglich einige verschiedene Heilmittel ausprobieren, denn sie hatte viel gelesen und Versuche unternommen, etwas zu finden, um ihm zu helfen. Der Winter war mittlerweile auf seinem Höhepunkt, die Nächte waren so kalt, dass es fast unerträglich war.

»Wie hältst du das hier nur aus?«, fragte ich meinen geflügelten Freund. Er schnaubte nur, als ich ihm eine Decke über den Rücken legte. Ich befürchtete, dass die Kälte ihm zu sehr zusetzten würde, auch wenn er nicht den Anschein machte, als würde er kurz davor stehen zu erfrieren. Trotzdem machte ich mir Sorgen um ihn.

»Cassandra, kennst du einen geeigneten Ort, wo er unterkommen könnte?« Ein Stall, eine Unterkunft, die vor dem kalten Wetter schützte. Doch im Dorf gab es so etwas nicht. Keinem Bauer konnte ich vertrauen, keinen Viehhalter konnte ich um Hilfe bitten. Etwas Abgelegenes wäre ideal, aber weder ich noch das Hexenweib kannte einen passenden Ort.

»Leider nicht«, sagte sie und steckte die Nase wieder ins Buch. Bedauernd sah ich meinen Freund an, der mich nur wieder anstupste, was er immer tat, wenn er mich aufmuntern wollte. Ich sollte mir nicht so viele Sorgen um ihn machen, das wollte er mir mitteilen, doch ich konnte einfach nicht anders. 

Ich war so sehr auf ihn fixiert, dass ich nicht merkte, wie Cassandra aufstand und nachdenklich zu den Bäumen sah. Mein Freund war der Erste von uns beiden, der ebenfalls lauschte und nervös auf der Stelle trat. Ich fragte mich, was los sei und hörte dann nur meine Freundin sagen: »Wer ist da?«

Mit wem redete sie? Ich verstand nicht, was los war, bis ich das Knacken im Unterholz hörte.

»Zeig dich! Sofort! Ich weiß, dass du da bist!«, rief Cassandra laut und fordernd. Sie konnte einschüchternd wirken, ein weiterer Grund, warum sie gemieden wurde. Derweil ärgerte ich mich, dass ich so unachtsam gewesen war. Denn wir wurden tatsächlich von jemanden beobachtet. Wie lange schon, das wollte ich mir gar nicht ausmalen, doch als ich Peter sah, der schüchtern zwischen den Bäumen hervor kam, rutschte mein Herz in die Hose.

»I-ihr seid tat-tatsächlich mit D-Dämonen im Bunde!« Er stotterte so heftig, dass es mir schwer fiel ihn zu verstehen. Sofort stellte ich mich vor meinen Freund, der den Kopf hob und aufgeregt schnaubte. Ich spürte, wie sein Herzschlag und seine Atmung schneller wurde und er kurz davor war in Panik zu fallen. 

»Peter, das ist kein Dämon!«, rief ich ihm zu, aber da war es schon zu spät.

»D-das wird Pr-Priester Theodor erfahren!«, sagte er mit zittriger Stimme und rannte los. 

»Das wirst du nicht tun!«, schrie Cassandra und hetzte ihm nach. Wenn Peter uns verriet, dann war alles verloren. Diese Erkenntnis schoss mir so schnell durch den Kopf, dass ich fast ohnmächtig wurde. Leicht benommen drehte ich mich zu meinem Freund und nahm sein Gesicht in meine Hände. Auf der rechten Seite spürte ich sein samtenes Fell unter meinen Fingern, auf der anderen lagen sie direkt auf seinen Knochen. Niemand außer ich würde und könnte ihn jemals so berühren, wie ich es tat.

»Du musst weg von hier, hörst du? Flieh! Lauf so weit weg, wie du nur kannst! Nun mach schon!«, bat und forderte ich von ihm. Wenn er hier blieb, würden die Dorfbewohner kommen und dann schreckliche Dinge tun. Das konnte ich nicht verantworten.

»Geh! Na los!« Ich drückte ihn in die entgegengesetzte Richtung.

»Und komm nicht zurück! Such dir einen sicheren Ort!«, rief ich ihm nach. Er ging nur langsam und sah zu mir zurück, als würde er nicht verstehen können, warum ich ihn weg schickte. Doch das war das einzig Richtige und es brach mir innerlich das Herz. 

»Lauf!«, brüllte ich, bückte mich und nahm einen Stein, den ich nach ihm warf. Ich wollte ihn nicht damit treffen, tat ich auch nicht, sondern wollte ihn nur dazu bringen endlich weiter zu gehen. Er schnaubte noch einmal auf und lief dann los, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Angestrengt schnappte ich nach Luft, denn der plötzliche Abschied war nur schwer zu verdauen. Ich würde ihn nie wiedersehen, das war klar und diese Erkenntnis tat mir so sehr weh, als hätte man mir eine heiße Klinge in den Leib gerammt. Jetzt war allerdings keine Zeit zum Trauern. Ich musste Cassandra helfen und Peter davon abhalten, uns zu verraten. Wie wir das anstellen sollten, wusste ich zwar nicht, denn die schlimmste Methode wollte ich mir gar nicht ausmalen, aber irgendetwas musste mir unbedingt einfallen. Ich rannte los, um so schnell ich konnte zum Dorf zurückzukehren. Denn dort würde ich spätestens Peter wie auch Cassandra vorfinden. 

 

Nie war es mir möglich gewesen, mir vorzustellen wie die Hölle auf Erden aussehen sollte. Ich dachte immer, dass ich schon das Schlimmste erlebt hatte, wenn mich mein Vater schlug und mir mein Kopf vor Schmerzen fast explodierte. Ich hatte mich geirrt. 

Als ich das Dorf erreichte und nach Luft rang, fiel es mir schwer das Bild zu verarbeiten, was sich mir bot. Fast alle Dörfler waren wach, darunter auch meine Eltern. Sie hielten Fackeln und Mistgabeln, Schaufeln und Knüppel in den Händen. Es war eine so typische und klischeehafte Szene, dass ich es erst gar nicht wahrhaben wollte. Priester Theodor war dabei der Mittelpunkt, der direkt vor Cassandra stand und sie ansah, als wäre sie ein Dämon aus der Unterwelt. Als wäre sie etwas abgrundtief Schlechtes und Bösartiges. Das war natürlich völliger Schwachsinn, aber überzeuge einen Gläubigen, der keinerlei andere Weltanschauung und Meinung neben die Seinige akzeptierte. 

»I-ich hab es g-genau ge-gesehen! I-ihr hattet Recht, Pr-Priester Theodor«, stotterte Peter zusammen. 

»NEIN!«, schrie ich und schaffte es damit sämtliche Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Wieder setzte ich mich in Bewegung und rannte zu der Versammlung hin. Cassandra wurde von meinem Vater und Bauer Rudolf festgehalten. Sie hatte das Haupt hoch erhoben und trotze Priester Theodor. Sie war nicht bereit dazu klein beizugeben. Als ich heran eilte, rannte meine Mutter auf mich zu und hielt mich eisern fest. Woher sie diese Kraft nahm, verstand ich nicht. Ich war überwältigt.

»Pssscht«, machte sie immer wieder, hielt meinen Kopf und meinen Leib fest an sich gedrückt, wie es eine Mutter tun würde, wenn sie versuchte ihr Kind zu beruhigen. Ich wollte mich aber nicht beruhigen und versuchte mich zu befreien. Bisher ohne Erfolg. Meine Knie knickten ein, so dass ich mit meiner Mutter nun auf dem Boden saß, doch ich starrte voller Furcht zu dem Priester und zu Cassandra, die festgehalten wurde.

»Ich hatte gewusst, dass du eine Hexe bist. Das hat jeder von uns gewusst. Nun haben wir also einen endgültigen Beweis«, sprach Priester Theodor und lenkte seinen Blick von Cassandra zu mir. In seinen Augen lag Vorwurf und Abscheu. Peter hatte bereits berichtet, was er gesehen hatte und andere der Dorfbewohner bestätigten seine Aussagen. Hatten sie uns alle beobachtet gehabt oder sagten sie es nur, weil sie Cassandra brennen sehen wollten? 

»Und du, Kind«, sprach Priester Theodor mich an und kam näher. Meine Mutter fiel ihm jammernd ins Wort.

»Bitte Priester, meine Tochter wusste nicht, was sie tat. Diese verdammte Hexe hat sie verzaubert!« Ihr letzter Satz spuckte sie voller Abscheu heraus. Dabei sah sie mit giftigem Blick zu Cassandra hinüber.

»Nein, das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!«, versuchte ich mich dagegen zu wehren. Ich wollte nicht, dass man Cassandra die Schuld zuschob. Schließlich war ich es gewesen, die das geflügelte Einhorn gefunden und sich darum gekümmert hatte. So einen schrecklichen Eindruck er auch auf andere Menschen tun würde, er war trotz allem nie gefährlich gewesen und daher auch kein Dämon. Cassandra hatte nichts damit zu tun, doch wie sollte ich das den anderen klar machen? Meine Mutter redete auf mich ein, ich solle mich von diesem Zauber befreien. Jetzt würde alles gut werden, die Hexe sei gestellt. Ich protestierte dagegen und verfiel in Panik, wollte mich aus dem Griff meiner Mutter befreien, die mich immer noch so festhielt, dass ich davon blaue Flecke bekommen würde. 

»Es ist wahr!«, rief Cassandra über die aufgebrachte Dorfgemeinschaft hinweg, um das Stimmengewirr zu übertönen. Auch mein Jammern, mein Flehen und meine Proteste verstummten einen Moment, als ich sie hörte. 

»Ich habe Selena verhext, damit sie mir dient«, sagte sie. Meine Augen wurden riesig, ich schüttelte langsam den Kopf. Was redete sie da? Cassandra sah in meine Richtung. Noch immer stand sie aufrecht da mit erhobenem, stolzen Kopf und sprach weiter. Den Blick, den sie mir zuwarf, verstand nur ich. 

»Ich habe sie dazu gebracht, sich um meinen Dämon zu kümmern, damit ich mich um andere Geschäfte kümmern konnte.« Erstauntes und erschrecktes Raunen ging durch die Menge. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie versuchte mich zu schützen, nicht wahr? Weil sie wusste, was auf sie zukam. Und damit mir nicht das gleiche Schicksal drohte … 

»Nein!«, rief ich in einem letzten Versuch, damit sie nicht alles auf ihre eigenen Schultern lud, doch sie lachte über mich.

»Seht nur! Sie steht immer noch unter meinem Bann und das wird sie ihr Leben lang, solange ich lebe.« Cassandra sah von mir weg und zu den Dörflern, die um sie herum standen und nur darauf warteten, dass man ihr das Maul stopfen konnte.

»Ich könnte euch alle verzaubern, wie wäre es damit? Ihr würdet gar nicht wissen, wie euch geschieht!«, höhnte sie über die Dorfgemeinde und lachte. Das alles war nur Schauspielerei, doch jeder kaufte es ihr ab. Außer ich. Ich wimmerte und verstand die Welt nicht mehr. Warum opferte sie sich für mich? 

»Genug mit dem Geschwafel!«, unterbrach Priester Theodor sie, als sie zu weiteren Worten ansetzte.

»Für deine Verbrechen wirst du büßen, so oder so und deine Drohungen werden dir nichts nützen. Der Herr beschützt uns.« Um seine Worte noch zusätzlich zu unterstreichen, hielt der Priester sein Kreuz, was er stets um seinen Hals trug, Cassandra entgegen. Sie fauchte, als würde der Anblick ihr Schmerzen bereiten, doch auch das war nur Tirade, um den Dorfbewohnern das zu geben, was sie wollten. Es war absurd! 

»Führt sie zum Scheiterhaufen!«, forderte der Priester und die Menge tobte und jubelte. Mein Vater und Bauer Rudolf brachten Cassandra harsch dazu sich zu bewegen. Sie stolperte für einen kurzen Moment, ging dann aber ohne Gegenwehr mit. Noch immer hielt sie ihren Kopf aufrecht, denn sie würde sich ihnen niemals beugen. Auch nicht im Angesicht des Todes, der auf sie wartete. Als sie an mir vorbei kam, blieb sie stehen. Den einen Augenblick räumte man ihr sogar ein, doch alles, was sie zu mir sagte, war: »Lebe!«

Ich starrte sie fassungslos an und hatte nicht bemerkt, wie mir bereits Tränen über die Wangen liefen. Man brachte Cassandra zum Scheiterhaufen und ich konnte nichts dagegen tun. Sie opferte sich für mich, damit ich weiter leben konnte. Indem sie behauptete mich verhext zu haben, würde man mich verschonen anstatt mich mit ins Feuer zu werfen. 

Meine Mutter ließ ihren Griff um mich endlich etwas lockerer, so dass ich mich von ihr lösen und den anderen folgen konnte. Ich ging mit zum Scheiterhaufen, der schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Gebrauch gewesen war. Jetzt wurde eifrig frisches Holz aufgetürmt und Cassandra direkt in die Mitte an einem Pfahl gebunden. Niemand hatte Mitleid mit ihr, alle wollten sie brennen sehen. Egal in welches Gesicht ich auch sah, sie gierten alle nach Blut. Für ihren Glauben, für ihre Furcht vor etwas, was nicht Existierte. Zumindest nicht in diesem Dorf. Vielleicht lebten irgendwo Dämonen, aber hier hatte es nie welche gegeben. Die einzigen Dämonen, die es hier gab, waren die Menschen selbst. Die bittere Erkenntnis kam leider zu spät. Ich war unfähig etwas dagegen zu tun. 

Nachdem Priester Theodor noch seine hochtrabenden Worte verkündet hatte, wurde der Scheiterhaufen entzündet. Das Feuer schlug schnell um sich und fraß sich gierig durch das trockene Holz. Der Schnee, der in der Nähe war, schmolz unsagbar schnell dahin, doch seine Feuchtigkeit konnte nicht verhindern, dass das Feuer weiter brannte. Ich stand vor dem Scheiterhaufen, schockiert und ungläubig und musste mit ansahen, wie die einzige Freundin, die ich in diesem Dorf besessen habe, einen grausamen Tod erleiden musste. Ihre Augen lagen die ganze Zeit auf mir und sie lächelte so liebevoll, dass es mir das Herz brach. Auch jetzt noch machte sie mir keine Vorwürfe und opferte sich für mich, um mich zu beschützen. Ja, sie war die einzige Freundin, die ich je besessen habe. Vielleicht sogar mehr, vielleicht war sie wie meine richtige Mutter gewesen, die auf mich aufgepasst hatte, so gut es nur ging, während meine leibliche Mutter es nie getan hatte. 

Als die Flammen Cassandras Körper erreichten, presste sie die Lippen zusammen. Sie tat den Dorfbewohnern nicht den Gefallen zu schreien. Wie viel Kraft es sie kostete den Schmerz nicht aus ihrem Leib zu brüllen, mochte ich mir kaum vorstellen. Sie ging schweigend unter. Wie ein Mahnmal, das auf ewig über dieses Dorf hängen würde. Sie taten ihr Unrecht. Das wussten sie alle. Denn fast jeder hatte schon ihre Heilkünste in Anspruch genommen. Cassandra war nie eine Hexe gewesen, sondern eine Retterin. Sie hatte Kinder versorgt, wenn sie vom Baum gefallen waren, hatte Kranke wieder gesund gepflegt und hatte alltägliche Leiden mit ihrer Medizin gelindert. Sie war keine Hexe! Sie war der beste Mensch von allen gewesen. Nicht einmal Priester Theodor hatte es mit ihr aufnehmen können, denn er heilte niemanden. Er schwang nur große Reden und manipulierte die Menschen zu grausamen Taten wie diesen. Wenn der Glaube zu solch grausamen Dingen fähig war, dann wollte ich nicht glauben. Nicht an Gott, nicht an den Herrn, der uns angeblich rettete. Vielmehr verfluchte er uns und ließ uns zu den wahren Dämonen werden. Denn kein gesunder Menschenverstand würde einfach so einen anderen Menschen verbrennen

 

Am Ende war ich die Einzige, die noch Stunden später beim Scheiterhaufen unter einem alten Baum saß und über Casssandras Tod wachte. Die Flammen hatten restlos alles von ihr verbrannt und nur noch eine schwache Glut war übrig geblieben. Ich wollte nicht gehen, wollte sie nicht im Stich lassen und ihr zeigen, dass ich immer noch bei ihr war. Auch wenn ihr Körper nicht mehr war, so glaubte ich daran, dass ihr Geist und ihre Seele weiter existierte. Sie würde in meinem Herzen weiterleben, so viel stand fest. Sie hatte viel für mich getan – zu viel – und ich hatte ihr nie richtig dafür danken können. Die dankbaren Worten reichten in meinen Augen nicht aus. Hätte ich doch nur mehr für sie tun können! 

Noch immer schniefte ich. Weder meine Eltern waren hier, noch Priester Theodor oder sonst wer. Sie alle waren gegangen, zurück nach Hause gekehrt, um zu schlafen. Wie konnten sie in dieser Nacht überhaupt nur ruhigen Schlaf finden? Ich hoffte für sie, dass sie schreckliche Alpträume hatten, denn ich hasste sie alle dafür, was sie getan hatten. Mein Hass war allerdings nicht so groß wie meine Trauer. Nun war ich allein in diesem Dorf und mir fehlte der Grund weiterzumachen. Hätte ich mich nicht einfach mit ins Feuer stürzen sollen?

»Lebe!« Das letzte Wort, was Cassandra an mich gerichtet hatte, hallte in meinem Kopf wider. Ich sollte leben, aber wie? Ja, es war richtig. Hätte ich mich mit ins Feuer gestürzt, wäre ihr Opfer sinnlos gewesen, doch was sollte ich ab jetzt machen? Alles schien so sinnlos.

»Nichts ist sinnlos auf dieser Welt«, hörte ich neben mir jemanden sagen. Ich erschrak mich zutiefst und sah auf. Meine Augen waren bereits vom vielen Weinen angeschwollen, doch ich erkannte den dunkelbraunen Mantel des Fremden. Seitdem er das erste Mal im Dorf aufgetaucht war, hatte ich ihn immer wieder gesehen gehabt, doch nie hatte ich mit ihm gesprochen und jetzt, wo ich darüber nachdachte, habe ich ihn auch nie mit jemand anderen sprechen sehen. War er also doch immer nur unsichtbar gewesen?

»Bist du eine Gestalt aus meiner Phantasie?«, fragte ich naiv und dümmlich. Es war mir egal, was er von mir halten würde. Das Leben hatte nichts mehr für mich übrig, da war es auch egal, was andere von mir dachten. Ich hörte ein leises Lachen unter der Kapuze. Das brachte mich dazu aufzustehen. Meine Beine waren allerdings ein wenig wackelig, weswegen ich aufpassen musste nicht wieder hinzufallen. Ich starrte den Fremden an, konnte aber wie so oft nichts erkennen, weil er so verhüllt war.

»Wer bist du?«, fragte ich ihn direkt. Jetzt konnte ich es wagen. Jetzt war sowieso alles egal.  Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis er darauf reagierte. Sein Blick war auf den Scheiterhaufen gerichtet, der nur noch Asche übrig gelassen hatte. Doch als er dann sich zu mir drehte, zog er gleichsam auch seine Kapuze von seinem Kopf.

»Mallkuar«, antwortete er mir. Das war sein Name, der – soweit ich von Cassandra wusste, als ich in ihren Büchern stöbern durfte – nichts anderes bedeutete als »der Verfluchte.« Der Name war passend, schoss es mir durch den Kopf. Ich war nicht fähig zu antworten, denn ich starrte ihn einfach nur an. Sein Gesicht hätte das Makelloseste von allen auf dieser Welt sein können und doch war es das nicht. Während seine linke Gesichtshälfte erahnen ließ, was für ein hübscher Kerl er gewesen sein musste, so zeigte seine rechte Gesichtshälfte all den Schrecken, den man sich nicht vorstellen wollte.

Nein, das war gar nicht wahr. Er hätte schrecklich aussehen müssen, aber er tat es nicht mehr. Als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, war sein Gesicht so grausam entstellt gewesen, dass man den Knochen hatte sehen können und ich es deswegen nicht hatte glauben und als Einbildung abgetan hatte. Das war nun nicht mehr der Fall. Zwar war die rechte Hälfte immer noch nicht verheilt, aber sie lag auch nicht mehr offen dar. Stattdessen konnte ich Narben und Verzerrungen sehen, aber seine Augen leuchteten in diesem sanften Blau und waren nicht rotglühend. Ich schluckte, weil in meiner Kehle ein dicker Kloß entstanden war und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Du bist … « Mehr brachte ich nicht heraus, ehe auch schon das Schluchzen aus meiner Kehle brach. 

»Es tut mir leid, was geschehen ist. Das wollte ich nie«, sagte er leise und drehte sich wieder zu dem Scheiterhaufen. Mein Schluchzen wurde lauter und ich sank wieder hinab auf den Boden, geschüttelt von den Krämpfen. 

»Du … du bist nicht daran Schuld«, brachte ich mühsam hervor. Ich wollte nicht, dass sich Mallkuar schuldig fühlte und sah deswegen wieder zu ihm auf. Sein trauriger Blick, der auf mir lag, berührte mich.

»Die Menschen sind daran Schuld, aber nicht du«, sagte ich und versuchte dabei eine so feste Stimme wie nur möglich aufzubringen, um überzeugend zu klingen. Er konnte nichts dafür, das wusste ich und das sollte auch er wissen. Nicht er hatte Cassandra umgebracht, sondern die Menschen, die in diesem Dorf lebten. Sie hätten es nicht tun müssen, aber ihr blinder Glaube hatte sie dazu getrieben. Anstatt sich anzuhören, was ich oder Cassandra zu sagen hätten. Anstatt sich selbst ein Bild davon zu machen, dass nicht alles ein Dämon war, nur weil es anders aussah oder unbekannt erschien. 

Mallkuar lächelte mich an. Sein rechter Mundwinkel war leider nicht in der Lage dem Lächeln den Ausdruck zu verleihen, den er gerne gegeben hätte, aber es war trotzdem das liebste Lächeln, was ich je bekommen habe. Er neigte sich zu mir hinab, strich mit seiner linken Hand über meinen Kopf und ich lächelte und schloss die Augen. 

 

Am nächsten Tag konnte ich mich nicht daran erinnern, wie ich in mein eigenes Bett gekommen war. Ich erinnerte mich auch nicht daran, wann und wo ich eingeschlafen war. Es war alles verschwommen. Hatte ich nur von Mallkuar geträumt? Lebte Cassandra vielleicht noch? Doch als ich in meinem Zimmer an mein Fenster trat, wusste ich es besser. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Nacht waren wirklich passiert. 

Trotz des Winterwetters stand die Sonne hoch am Horizont und verriet mir, dass es schon längst weit nach Mittag war. Meine Eltern hatten mich nicht geweckt? Ich wusch und zog mich an, doch ein bitterer Beigeschmack blieb die ganze Zeit über. Ich dachte über Cassandra nach, über Mallkuar und vor allem über mein Leben. Wie sollte es weiter gehen? Konnte ich denn so einfach weiterleben? Besonders hier im Dorf? Das erschien mir irrational und allein die Vorstellung tagein und tagaus den Menschen ins Gesicht zu blicken, die Cassandra ermordet hatten, schreckte mich ab. Das wollte ich nicht. Ein letztes Mal sah ich noch aus meinem Fenster und erkannte eine Gestalt in einem dunkelbraunen Mantel. Mein Entschluss stand fest. 

Mit zügigen Schritten ging ich die Treppe nach unten und visierte sofort die Speisekammer an. Daraus holte ich mir einen Laib Brot, Käse und Dörrfleisch. Meine Mutter entdeckte mich, als ich das Bündel bereits zusammen geschnürt hatte.

»Selena«, sprach sie mich an, doch ich ignorierte sie völlig, ging an ihr vorbei und zog meinen Mantel über. Auch mein Vater war da, der sich mir in den Weg stellte, als ich zur Tür gehen wollte.

»Du gehst heute nirgendwo hin«, sagte er mit strengen Ton. Normalerweise hätte ich mich davon einschüchtern lassen, doch heute nicht mehr.

»Wage es nicht mich aufzuhalten«, sagte ich ihm, sah ihm direkt in die Augen. Ich würde nicht klein beigeben, mich nicht einschüchtern lassen. Nie mehr! 

»Geh mir aus dem Weg oder willst du mich wieder zu Boden prügeln?« Der Vorwurf in meiner Stimme war deutlich zu hören. Machte ich ihm damit ein schlechtes Gewissen? Wenn ja: Gut! Zwar trat er nicht aus meinem Weg, doch er hielt mich auch nicht davon ab, als ich um ihn herum ging. Bevor ich die Haustür öffnete, drehte ich mich ein letztes Mal zu ihnen um und sah sowohl meine Mutter als auch meinen Vater an. Mein Vater stand noch immer mit strenger Miene da, während meine Mutter fast ängstlich wirkte. Es war lächerlich. Beschützt hatte sie mich nie vor den Schlägen meines Vaters und auch sonst hatte sie nie ihre Liebe zu mir gezeigt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie dazu fähig war zu lieben.

»Ich werde euch niemals verzeihen, was ihr Cassandra und mir angetan habt«, sagte ich mit ruhiger Stimme. Noch nie hatte ich so offen und solche direkten Worte zu ihnen gesagt gehabt.

»Keinem werde ich im Dorf den sinnlosen Mord an Cassandra verzeihen«, fügte ich hinzu und drehte mich zur Tür.

»Selena!« Ein letztes Aufbäumen meiner Mutter, aber mehr sagte sie nicht. Sie war sprachlos und ich hatte nichts mehr mit ihr oder meinem Vater zu bereden. So verließ ich mein Elternhaus und sagte mich davon los. Als ich mich davon entfernte, spürte ich, wie langsam die Last von meinen Schultern fiel. Noch immer sah ich die Gestalt im dunkelbraunen Mantel nicht unweit von dem Haus entfernt stehen. Es war Mallkuar, das wusste ich nun. Ob jemand anderes ihn sehen konnte oder nicht, es war mir gleichgültig. Ob er nur eine Phantasiegestalt meines Kopfes war oder tatsächlich existierte, auch das war mir egal. Er war da. Er war der Einzige, der für mich zählte, denn eines war mir schwerlich bewusst geworden. Das Dorf hatte ich nie verlassen, weil Cassandra noch hier gelebt hatte. Ich hatte sie nicht allein zurücklassen wollen, weil sie mir viel bedeutet hatte. Doch jetzt war sie nicht mehr und so gab es hier nichts, was mich noch hielt. 

Mit meinen Augen sah ich Mallkuar an, der seine Kapuze trug, aber dieses Mal konnte ich ohne Probleme sein Gesicht erkennen.

»Ich wollte schon immer mal in den Süden gehen«, sagte ich ihm und lächelte fröhlich. 

»Dann geh in den Süden«, antwortete er mir.

»Aber nur, wenn du mitkommst«, sagte ich wieder und bekam ein schiefes Lächeln von ihm. Das war der Beginn eines neuen Kapitels meines Lebens. Ich werde weiterleben, denn das versprach ich Cassandra hoch und heilig. Für sie würde ich weiterleben, aber nicht hier im Dorf. Nicht bei den Mördern. Ich würde mir einen anderen Ort suchen, einen, wo man nicht blind dem Glauben folgte und nur Dämonen sah. Mir war klar, dass das Leben nicht einfach war, aber es war überall besser als hier. Gemeinsam mit Mallkuar würde ich meinen Platz in der Welt finden. 

Für Cassandra.